Ich pfeife auf den Tod!: Wie mich der Fußball fast das Leben kostete (German Edition)
zunehmend, dass der Rückzug in sein Zimmer nicht hilfreich war. Ihm wurde deutlich, dass der Rückzug und das Sich-Verstecken ihm nur kurzfristig Sicherheit boten, er langfristig aber immer unsicherer wurde und er sich gar nichts mehr zutraute. In der Einzeltherapie erhielt er von mir wesentliche Informationen über die Funktion von Grübeln und Sorgen. So berichtete ich ihm, dass auch gesunde Menschen zu 80 % negative Gedanken haben, dass unser Verstand eine »Denkmaschine« ist, die permanent Gedanken produziert – meist negative. Im Laufe der Evolution sind sozusagen die Optimisten ausgestorben, da nur die Menschen überlebt haben, die möglichst gut Gefahren vorausgesehen und über Probleme gegrübelt haben und sich daher besser schützen konnten und bessere Lösungen für ihre Probleme gefunden haben. Zum Lösen von emotionalen Problemen ist jedoch unser Verstand höchst ungeeignet, was man schon daran erkennt, dass man über ein Problem tagelang grübeln kann, ohne dass man eine gute Lösung für sich findet. Von daher vermittelte ich Herrn Rafati gedankliche »Entschärfungsstrategien«, um sich von den negativen Gedanken, die sein Verstand derzeit produzierte, etwas distanzieren zu können. So empfahl ich ihm z. B., wenn er denkt »Ich bin nichts wert«, sich zu sagen »Mein Verstand sagt, ich sei nichts wert«. Eine andere Möglichkeit wäre, sich solche negativen Gedanken mit der Stimme einer lustigen Zeichentrickfigur vorzustellen oder sie zu einer bekannten Melodie zu singen. Als hilfreich erlebte es Herr Rafati, sich seine Gedanken wie Blätter auf einem Fluss oder Wolken am Himmel vorzustellen, die kommen und gehen und auf die man keinen Einfluss hat.
Andere sich immer wieder aufdrängende Gedanken, wie z. B. »Ich bin zu 90 % selbst schuld an dem Suizidversuch«, versuchten wir mit Pro-Contra-Listen, also Argumenten für und gegen diese Annahme zu entschärfen. So konnte er seine Schuldgefühle etwas reduzieren, nachdem ihm durch die Pro-Contra-Liste deutlich geworden war, dass er während des Suizidver suches unter einer schweren Krankheit, nämlich einer Depression litt, er sich in einer subjektiv ausweglosen Situation befand und er aufgrund seiner massiven negativen Gefühle die Steuerungsfähigkeit über sich verloren hatte.
Eine weitere Technik, die wir einsetzten, um das Grübeln zu reduzieren, war, die Gedanken zu Ende zu denken. So war ein ständiger Gedanke von Herrn Rafati »Was denken die anderen?«. Es ist wichtig, so eine Frage zu beantworten und den Gedanken zu Ende zu führen, um damit die Katastrophenbefürchtungen, die dahinterstehen, deutlich zu machen. Hinter dem Gedanken »Was denken die anderen?« stand nämlich in letzter Konsequenz die Befürchtung, dass er nie mehr wieder auf die Straße gehen könne, ohne dass alle Menschen ihn erkennen und sich sagen würden, dass er ein absoluter Versager sei, und er sich deswegen für immer zu Hause verstecken müsse. Erst wenn man diesen gedanklichen »Supergau« explizit ausspricht, erkennt man, wie überzogen und unrealistisch eine solche Befürchtung ist, die der Verstand da produziert hat, wodurch man sich besser von solchen katastrophisierenden Gedanken distanzieren kann.
Zunehmend häufiger verließ Herr Rafati sein Zimmer auf der Station, nahm Kontakt mit den Mitpatienten auf, aß mit ihnen zusammen und er unternahm Ausflüge mit seiner Lebensgefährtin. Dies führte zwar weiterhin regelmäßig zu ausgeprägten Ängsten mit der Befürchtung, von allen beobachtet und erkannt zu werden, mit der Zeit nahmen diese Ängste jedoch ab. Nach meinem Hinweis, dass körperliche Betätigung ebenso gut Depressionen bessern könne wie Antidepressiva, erklärte er sich bereit, mit unserem Sporttherapeuten Hr. Marcel Wendt tägliche Laufeinheiten zu absolvieren. Zusätzlich lernte Herr Rafati bei einer Co-Therapeutin Achtsamkeits- und Wahrnehmungsübungen, wobei er lernte, dass, wenn er seine Aufmerksamkeit auf seine Atmung oder etwas Äußeres richtet, er weniger grübelt oder sich sorgt.
Nach zwei Wochen Klinikaufenthalt bekam ich zusätzlich zu den Gesprächen mit Dr. Hettich eine Bewegungstherapie »aufgedrückt«, weil, wie der Sporttherapeut sagte, es wissenschaftlich erwiesen sei, dass Sport und Bewegung für die Heilung förderlich seien. Mir schien das nicht ganz schlüssig, schließlich war ich durch einen Beruf so krank geworden, in dem Sport, Bewegung und absolute Fitness im Vordergrund stehen und tägliches Bewegungstraining
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