Ich pfeife auf den Tod!: Wie mich der Fußball fast das Leben kostete (German Edition)
diesen langen Wochenenden auf regennassen, tief aufgeweichten oder hammerhart gefrorenen Plätzen, unter sengender Sommersonne, in Regen, Eis und Schnee, umgeben von wütend schreienden Trainern und völlig enthemmten Fans, habe ich kämpfen gelernt, gelernt, meinen Schmerz auszuschalten, Niederlagen zu überwinden, niemals ein Spiel verloren zu geben und meinem Körper auf Knopfdruck Leistung abzufordern. Mit dieser Fähigkeit, durch Willen Schmerz wegzudrücken und meine Leistungsgrenzen ständig neu zu definieren, würde ich die kommenden Jahre weit vorankommen.
Zum Stürmer reichte es bei mir nicht. Da erfuhr ich Grenzen. Ich war zwar der Kämpfer – aber technisch nur Mittelmaß. Stattdessen wurde ich in der Verteidigung eingesetzt und spielte Manndecker, der die Aufgabe hat, den Spielaufbau der gegnerischen Stürmer schon im Vorfeld zu zerstören. Das hat nicht das Filigrane des Stürmers, der ich gerne geworden wäre. Das bedeutet schwerer Säbel statt Florett. Reingrätschen, sich vor den Ball werfen, im Kopfballduell höher steigen als der Gegner, Gegner runterdrücken, keinen Ball verloren geben, nicht zulassen, dass sie Richtung Strafraum kommen. Höher, schneller, angriffsstärker, brutaler, wendiger und auch gerissener sein – das macht den guten Manndecker aus. Der war ich.
Trotz meiner von Mannschaft und Trainer anerkannt wichtigen Spielleistung für unsere Elf war klar, dass mein Traum, als Fußballer an die Spitze zu kommen, nie in Erfüllung gehen würde. Das war für mich keine Niederlage, die irgendwelche Spuren hinterließ. Ich sah jedes Wochenende die Spieler von Hannover 96 und wollte weiter, nach ganz oben. Mindestens Nationalmannschaft. Irgendwie. Damals sah ich immer nur Chancen, Herausforderungen – niemals Hindernisse. Hindernisse wurden umspielt und fast immer taten sich neue Möglichkeiten auf. Und die suchte ich jetzt.
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Mit 16 Jahren sah ich im Vereinsheim dieses Plakat: eine Aktion der Fußballvereine zur Anwerbung von Schiedsrichtern. Geködert wurden wir Jugendlichen mit freiem Eintritt zu Bundesligaspielen. Jeder meiner Kumpel wollte damals zu Hannover 96– da waren Freikarten etwas. Und so setzte ich mir andere Ziele. Ich entschied: Ich werde Schiedsrichter! Zu meinem Mannschaftstraining, den Fußballspielen am Wochenende als Manndecker kam jetzt noch das Büffeln der Regeln für die Schiedsrichterprüfung dazu. Der Schiedsrichterschein ist wie die Führerscheinprüfung. Kompliziert vom Regelwerk her, da gibt es viele, viele Kleinigkeiten, Finessen und Ausnahmeregelungen – aber mit Fleiß und logischem Denken gut zu schaffen. Der zeitliche Aufwand ist jedoch hoch und viele brechen ab. Ich nicht. Drei Tage Crashkurs – und dann die schriftliche und die mündliche Prüfung. Am 9. April 1986, ich weiß es noch wie heute, bestand ich mit 15 Jahren meine Schiedsrichterprüfung.
Schiedsrichter kann grundsätzlich zunächst jeder werden – eine charakterliche Qualifikation gibt es nicht. Das kommt später, wenn die Schiedsrichter in den Klassen aufsteigen, dann wird zunehmend auch die Persönlichkeit mit in die Bewertung einbezogen. Vorerst geht’s nur um Spielregeln. Nicht gefragt war: Menschenführung. Null. Psychologie? Null. Wir wurden mit dem Regelwerk im Kopf einfach auf die Spieler losgelassen. Erfahrung kommt von selbst. Der Weg nach oben in die Bundesliga ist für einen Schiedsrichter lang, hart und voller Gefahren. Du fängst ganz unten in der F-Jugend mit Sechsjährigen an, in der Kreisklasse der Herren geht‘s weiter, zunächst vierte, dritte, zweite, dann erste Kreisklasse und dann die ersten Spiele in der Kreisliga. Jede Klasse ist eine Hürde für sich. Ein Sprung, der jedes Mal motiviert, wenn er gelingt. Dein Obmann ist das nächste Hindernis. Er allein bestimmt, ob deine Nase passt, ob du gut genug bist – und ob du weiterkommst. Nach der Kreisliga kommt der Bezirk, wieder mit drei oder vier Klassen, die zu durchlaufen sind, dann der Landesverband, dann kommt der Norddeutsche Verband – und dann, erst ganz am Schluss, kommt die Bundesliga. In Niedersachsen hatten wir damals die meisten Klassen bundesweit, insgesamt dreizehn, durch die sich jeder, der als Schiedsrichter in die Bundesliga will, über eine jahrelange Ochsentour Wochenende für Wochenende durchkämpfen muss. Dreizehn Level, jeder gespickt mit vielen Fallen, Neid, Konkurrenten und immer neuen Bewährungsproben, an denen du scheitern kannst. Dreizehnmal ein Filter der Auslese –
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