Ich pfeife auf den Tod!: Wie mich der Fußball fast das Leben kostete (German Edition)
hätte und dabei natürlich Fehler passierten. Ich sackte in mich zusammen. Die im Fernsehen übertragenen Ereignisse während des Spiels, die Bilder der entfesselten Spieler und ihrer Fans, die Schilderungen Fröhlichs über meinen Zusammenbruch in der Kabine, mein verzweifelter Ausbruch ihm gegenüber mussten auch Fandel erreicht haben. In der Schiedsrichterkommission musste inzwischen bekannt gewesen sein, in welch kritischem Zustand ich mich befand. Man nahm mich aus der Schusslinie. Ich bekam sechs Wochen Schutzsperre für die erste Bundesliga. Ich war inzwischen leider schon so weit und so misstrauisch, dass ich darin keinen »Schutz« sah – sondern eben eine »Sperre«, um mich weiter aus der Bundesliga zu drängen.
# # # 19.11.2011, 4:20 Uhr # # #
Vor dem Hotel unten hielt ein Taxi. Ein Geschäftsmann, dem hinten das Hemd aus der Hose hing, tastete suchend nach seinem Portemonnaie, während eine gackernde Frau mit schwarzen Haaren in einem schwarzen Kleid auf schwarzen Schuhen mit hohen Absätzen im Hoteleingang verschwebte. Drüben vor dem Haus stand ein Wachmann, der wie ich die Szene beobachtete und tief an einer Zigarette zog. Wir waren die Einsamen dieser Nacht – die anderen lebten ihr Leben. Wir unseres nicht. Wir warteten. Worauf wartete ich? 4:20 pulste die Digitaluhr. Was wäre gewesen, wenn ich rechtzeitig ausgestiegen wäre? Ich säße nicht in diesem Hotel. Ich wäre bei Rouja und morgen nach den Wochenendeinkäufen würden wir sicher im Schlosspark spazieren gehen und abends vielleicht ein Konzert besuchen, ein stressfreies, erholsames Wochenende für die Erholung nutzen. Was tat ich mir an, was machte ich in diesem Hotel, warum war ich unfähig, mich von diesen Menschen zu lösen, für die ich nur noch Misstrauen spürte?
Ich hatte den Fernseher angeschaltet, um mich abzulenken. Auf NTV lief eine Doku über den Zweiten Weltkrieg. Panzer fuhren von links nach rechts durch brennende Kornfelder, Bomber warfen ihre tödliche Last auf wehrlose Städte. Menschen liefen verzweifelt durch die rußgeschwärzten Ruinen ihrer Häuser.
Ich hatte seit meinem siebten Lebensjahr gelernt, immer eigenverantwortlich zu handeln, denn mein alleinerziehender Vater war berufstätig und konnte sich nicht immer um mich kümmern. Auf meinen Charakter hatte das bestimmt den Einfluss, dass ich mir einen gewissen Druck aufbaute, immer alles richtig machen zu müssen. Diese hohen Ansprüche an die eigene Person, an einen unbedingten Leistungswillen mit der Neigung zum Perfektionismus sollten meinen weiteren Lebensweg prägen. Dieser Perfektionsanspruch war es auch, warum ich mich nicht lösen konnte. Ich wollte meinen Ruf als Schiedsrichter zunächst wieder in Ordnung bringen und nichts Zerstörtes, Unfertiges hinterlassen und mit einem Makel behaftet den Traumberuf meines Lebens verlieren. Ich suchte einen Ausgang und Tür auf Tür warfen Fandel und Krug vor mir ins Schloss. Und dann war da noch etwas anderes, was ich nicht verstand. Von meinem Vater hatte ich seine Menschlichkeit, Herzlichkeit, den Respekt vor anderen, eine tiefe Moral und Aufrichtigkeit, die Sehnsucht nach Harmonie und vor allem seinen starken Gerechtigkeitssinn mitbekommen. Seine Nächstenliebe hatte mich immer fasziniert. Er war schlicht ein Menschenfreund. Seine Werte hatte ich übernommen. In dem, was ich jetzt erlebt hatte, wurde alles infrage gestellt, woran ich glaubte. Ich konnte nicht begreifen, wie mir geschah.
Auf NTV war jetzt wieder dieser seltsam aufgeblasene Freak an der Reihe. Obwohl der Ton aus war, erkannte ich seine Rede. Diese Gestik. Sportpalast. Marschkolonnen. Totaler Krieg. Diese Bilder wurden nachts oft wiederholt. Ich hatte sie in vielen meiner schlaflosen Nächte gesehen. Jetzt würden gleich die Panzer in die andere Richtung fahren, von rechts nach links – diesmal von Russland nach Deutschland. Bilder der zerstörten Reichskanzlei folgten, das Hissen der Sowjetflagge auf dem Reichstag, dann Luftaufnahmen vom zerbombten Berlin. Warum dieses Gegeneinander? Ich fragte mich, was ein Leben noch wert wäre, in dem nur Stärke und die Fähigkeit zur Intrige etwas zählen. Warum dieser ewige Druck? Warum strebten wir nur nach Materiellem? Geld, Macht, Erfolg? Und nicht nach bleibenden, menschlichen Werten? Warum erhielten Menschen, die sich so feindschaftlich über alles ausbreiteten, so viel Einfluss in unserer Gesellschaft? Und warum ließ ich es zu, dass jemand so viel Macht über meine Gedanken, meinen Schlaf, mein
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