Ich pfeife auf den Tod!: Wie mich der Fußball fast das Leben kostete (German Edition)
jede Erholung verhindern. Und vor allem: Die Angst vor dem nächsten Spiel und dem nächsten Telefonat würde mein Selbstvertrauen zunehmend zerstören. Angst ist ein ganz schlechter Begleiter. Angst zerfrisst einen von innen. Erst langsam, dann immer schneller.
Auch jetzt spürte ich sie wieder in mir. Es war 3:50 Uhr und in 700 Minuten würde das Spiel beginnen. Seit dem Nürnbergspiel war ich angezählt. Und genauso wankend wie ein Boxer stand ich seither auf dem Spielfeld. Zehn Monate Angst, die mich in diesen Zustand gebracht hatten.
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Im Spiel Hertha BSC Berlin – Fortuna Düsseldorf, eine Woche nach dem Spiel in Nürnberg, kam meine ganze Unsicherheit wieder voll zum Ausdruck. Ich war so am Ende, dass ich inzwischen sogar schon die Spieler um Hilfe anbettelte. Christian Lell von Hertha BSC Berlin, den ich aus seinen Bayern-Zeiten kannte, fragte ich im Kabinengang, ob er sich vorstellen könne, wie schwer ich es in der Vorwoche in Nürnberg gehabt hatte. Ich bat ihn, nicht zu meckern und auf seine Mannschaft entsprechend einzuwirken. Da ich mit ihm immer gut klargekommen war, sicherte er mir zu, für Ruhe zu sorgen, und zeigte Verständnis. Auch einen Spieler von Fortuna Düsseldorf, Sascha Rösler, der ein ständiger Unruheherd für jedes Spiel und den Schiedsrichter war, versuchte ich zu besänftigen, damit das Spiel ruhiger verlaufen würde. Umsonst. Das Spiel lief gegen mich, mein Durchsetzungsvermögen litt durch meine Selbstzweifel, die aggressiven Fangesänge und die Angst, hier Fehler zu machen – oder die Gelbe oder gar Rote Karte zu ziehen, was neuerliche Diskussionen auslösen würde.
Wenn man als Schiedsrichter unsicher ist, kippt das Spiel aus geringstem Anlass. Als die Stimmung auf dem Platz aggressiver wurde, hätte ich Präsenz zeigen müssen, eine eindeutige Körpersprache. Aber ich war gedanklich blockiert und ratlos, wie ich reagieren sollte. Ich durfte es nicht auf meine Art, denn wenn ich mich einsetzen würde wie gewohnt, käme wieder massive Kritik von Fandel, ich wirke zu arrogant, ich hätte keine Balance, meine Körpersprache müsse endlich besser werden. Wie Fandel es wollte, verstand ich nicht und zeigen konnte er es mir auch nicht. Ich wusste einfach nicht mehr, wie ich mich bewegen sollte. In diesen Selbstzweifeln verhaftet ließ ich drei klare Fouls ungestraft.
Fußballspieler haben eine gute Witterung für Schwäche. Sie wird ihnen von Kindesbeinen an auf den Fußballplätzen antrainiert. Die Schwäche des Gegners erhöht die eigene Chance zum Sieg. Vermutlich hatte sich zudem mein dummes Hilfsersuchen herumgesprochen. Wenn die Spieler auf mich zustürmten, um zu protestieren, sprach ich sie nicht energisch an, um ihnen eine Grenze zu setzen, sondern ließ mir das einfach gefallen, wie sie mich umringten und bedrängten, wütende Grimassen zogen, schrien und mich dabei bespeichelten. Ich war in der Defensive, wich zurück, was weitere Spieler auf den Plan rief, dem Schiri endlich auch mal die Meinung zu sagen. »Kommt alle her, bei Rafati dürfen heute alle mal ungestraft Dampf ablassen!« Ich hatte meine Autorität verspielt. Es war wie eine Meute Hunde auf der Fuchsjagd. Das Gebelle und Gejaule nahm kein Ende. Die Fankurven beider Seiten tobten natürlich mit. Ich verlor den Überblick und merkte, dass ich plötzlich alles nur noch verschwommen sah. Es war ein Mix aus Versagen und Erniedrigung und vor allem aus Überforderung. Ich stand wie entrückt und schaute dem ausbrechenden Chaos atemlos zu. Mir fehlte selbst die Luft für meine Fox 40. Ich hatte nur noch ein Ziel: mich irgendwie über die 90 Minuten zu retten und dann an einen ruhigen Ort zu fliehen.
Der Trainer von Düsseldorf, Norbert Meier, schrie mich wütend an, ob ich jemals zuvor Fußball gespielt hätte, und protestierte nach dem Spiel. Später sagte ein Erstliga-Schiedsrichter zu meinem Assistenten, ich hätte jämmerlich ausgesehen, und fragte, warum ich mir das alles gefallen ließe. Ich hatte einen seelischen Zusammenbruch und war den Tränen nahe, was die Assistenten auch bemerkten. In der Kabine fragte mich der Beobachter, Lutz Michael Fröhlich, wie Wagner Mitglied der Schiedsrichterkommission, ob ich denn selbst mit meiner Spielleitung zufrieden sei. Ich ging auf das Spiel gar nicht ein und sagte ihm nur, dass ich völlig neben mir stünde, nicht mehr könne und dass ich mich von bestimmten Leuten unfair behandelt fühle, ohne dabei Namen zu nennen, wobei er gleich wusste, wen ich
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