Ich pfeife auf den Tod!: Wie mich der Fußball fast das Leben kostete (German Edition)
ausgeliefert. Meine Stimmungen schwankten im Sekundentakt, ein Wechselspiel zwischen Hilflosigkeit, Selbstmitleid, Trauer, unbändiger Wut, Bitterkeit, Schmerz, Verzweiflung, Ohnmacht, Überwältigung und wieder unbändiger Aggression gegen meine Unterdrückung spielte sich zwischen diesen verdammten vier Wänden ab. Unfähig, etwas zu tun. Ich war in völliger Auflösung, denn die Bilderflut meines unbändbaren Kopfkinos brachte mich langsam um meinen Verstand. Und sein nächster Spruch hallte durch meinen Kopf: »Fünfhundert andere Schiedsrichter hätten dieses Spiel so begleiten können!« Ich war also nur noch Mittelmaß, einer von fünfhundert. Dann meine gefühlte Giftspritze: »Jeder darf einen Fehler machen, nur du nicht, Babak.« Und der Film begann von Neuem. Ich durfte heute beim Spiel nicht wieder einen Fehler machen, von der FIFA-Liste war ich schon eliminiert, und jetzt auch von der Bundesligaliste? Und jetzt mein Finale in Köln, hier, wo meine Bundesligakarriere begonnen hatte. Ich fühlte mich verachtet und verstoßen. Ich fühlte mich respekt- und hemmungslos misshandelt.
# # # 19.11.2011, 6:20 Uhr # # #
Mein Schädel brummt lauter und pocht immer mehr. Der Blick geht wieder zur Uhr – 6:20– und pulst mich wieder in den anderen Zustand zurück: Angst!
Ich kann mich nicht befreien. Ich starre weiter, fokussiere immer stärker einen Punkt, das magische Blinken der Uhr und komme in eine Trance, die mich handlungsunfähig macht und mich den Bildern und Kurzschlüssen in meinem Kopf völlig ausliefert. Ich drehe mich immer schneller im Kreis. Verschwommen und teilweise nicht erkennbar in seinen Handlungen und trotzdem einfach unbeschreiblich realistisch, unerträglich in einer nicht gekannten Intensität läuft dieser Film immer schneller ab. Der Fernseher springt an und ich sehe einen Zusammenschnitt von Spielszenen meiner größten Niederlagen, ich entdecke mich auf dem Feld, wie ich die Gelbe Karte ziehe, und höre den Kommentator immer wieder sagen: »Tja, da hat der Schiedsrichter wohl die Rote Karte im Hotel vergessen!« Ich spüre den Schmerz, der absoluten Lächerlichkeit preisgegeben zu sein. Bin im Schiedsrichterlehrgang und versuche den Kollegen zu erklären, warum ich das Foul nicht sehen konnte und keiner in diesem Moment etwas hätte sehen können. Ich drücke die Zeitlupe, ich zoome – während die anderen über mich lachen, höre ich seine Stimme: »So ein Spiel können fünfhundert andere Schiedsrichter auch begleiten!« »Begleiten«, ha, statt führen und leiten. Ich bin kein Begleiter, ich bin Schiedsrichter aus Leidenschaft, ich … Plötzlich in meinem Rücken ein empörtes Raunen aus der Fankurve, ich stehe jetzt ohne Trikot mitten auf dem Spielfeld, völlig nass geschwitzt. Ich suche nach meiner Roten Karte, ich finde sie nicht. Ich muss sie im Hotel vergessen haben. »Jeder darf einen Fehler machen, nur du nicht, Babak!« Die Hitze in der Arena lässt sich nicht regulieren. Die Klimaanlage steht auf Kühlen, aber ich schwitze, es läuft aus allen Poren, über mein Gesicht, vermischt mit Tränen meiner Angst, meiner Wut und meiner Trauer. Die Sprechchöre in der Arena werden immer lauter, sie rufen, so scheint es, meinen Namen. Dann höre ich es genau, aus 50.000 Kehlen: »Babak Tomati! Arschloch Rafati!«
Das Fernsehbild erlischt. Es spuckt mich aus, ich lande wieder im Zimmer. Sitze immer noch auf der Couch, immer noch in Mantel und Schuhen. Wie viel Zeit bleibt mir noch? Magisch angezogen blicke ich immer wieder zur Uhr. Verdammt, warum trete ich diesen Fernseher und diese blaue Uhr nicht einfach kaputt? Vielleicht gelänge es mir, diesen Zauber zu durchbrechen, meinen Schmerz abzureagieren, um mich nicht weiter in diese Ekstase der Verzweiflung zu puschen? In einem letzten Kraftakt versuche ich mich zu konzentrieren, um einen schnellen Ausweg zu finden, meine Hilflosigkeit und Handlungsunfähigkeit unter Kontrolle zu kriegen. Der Impuls ist: Flucht. Zu meinem Vater. Zu Rouja. Mit allem einfach Schluss machen und unauffällig in ein neues, besseres Leben gleiten. Ein Leben ohne Fußball. Ich werde unmöglich noch einmal in der Bundesliga meinen Mann stehen können. Panikartig schaue ich im Handy auf die nächste Zugverbindung nach Hannover, um einen zweiten Versuch zu starten. Kurz vor 8 Uhr fährt planmäßig der nächste Zug. Ich stocke, als ich aufstehen will. Ich bin auf dem Haken einer neuen, für mich unentwirrbaren Problemschleife. Was, wenn ich in der Lobby
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