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Ich pfeife auf den Tod!: Wie mich der Fußball fast das Leben kostete (German Edition)

Ich pfeife auf den Tod!: Wie mich der Fußball fast das Leben kostete (German Edition)

Titel: Ich pfeife auf den Tod!: Wie mich der Fußball fast das Leben kostete (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Babak Rafati
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verziehen.
    Vielleicht aber wäre es die einzig richtige Entscheidung gewesen in dieser furchtbaren Nacht. Abstand gewinnen von sich selbst. Diesem Hotelzimmer entfliehen. Der Uhr. Sich beruhigen. Nähe finden bei einem Menschen, der einen vorbehaltlos liebt und unterstützt. Mit dem nächsten Zug wäre ich gegen halb zehn in Hannover gewesen. Eine halbe Stunde vor dem geplanten Frühstück meiner Teamkollegen. Ich hätte sie anrufen, ihnen meine Situation erklären können. Die Zeit hätte noch gereicht, einen Ersatzschiedsrichter zu alarmieren. Doch ich tat es nicht. In meinem Zustand gab ich mich der verzweifelten Illusion hin, dass ich es bis zur Abfahrt doch noch schaffen würde, irgendwie auf die Spur zu kommen, meinen desolaten Zustand zu verbergen und das Spiel mit Anstand über die Runden zu bringen. Danach, so dachte ich, könnte ich weitersehen und in Ruhe meine Entscheidung treffen – weitermachen oder meinen Rücktritt erklären, aber eben selbst die Initiative behalten. Und nicht von den Medien, den Fans und meinen Vorgesetzten ins Aus getrieben werden.
    Kurze Zeit später checkte ich wieder im Hotel ein. Faselte irgendwelche fadenscheinigen und sicher peinlichen Erklärungen an der Rezeption. Mein nächster großer Fehler dieser Nacht war, dass ich nicht auf ein anderes Zimmer bestand. Wieder saugte mich das Zimmer mit demselben schaurigen Effekt ein wie Stunden zuvor, wieder schien mir der Raum wie von einem Nebel erfüllt und erneut fühlte ich mich von einer treibenden Kraft in dieses Zimmer hineingewuchtet. Ich ließ die Tasche mitten im Raum fallen, sank erschöpft auf das Sofa. Das Erste, was mir ins Auge fiel, war die blaue Uhr am Fernseher, und ich hatte nicht nur das Gefühl, dass ich genau dort weitermachte, wo ich zuletzt aufgehört hatte. Es war genauso.
    # # # 19.11.2011, 6:15 Uhr # # #
    Wieder das Zählen und Berechnen der Stunden und Minuten und Sekunden jeder digitalen Stelle bis zum Anpfiff und die aufschäumende Angst in der Erkenntnis, in diesem Zustand würde ich nicht zum Spiel antreten können. Schon äußerlich würde jeder sehen, wie es in meiner Seele aussah. 6:15 Uhr, seit gestern früh um sechs war ich nun ohne jeden Schlaf. Über vierundzwanzig Stunden. Ich wirkte wie ein niedergekämpfter Boxer, der über zwölf Runden unendlich viele Schläge wehrlos hinnehmen musste, ohne auch nur einen einzigen Gegenschlag zu erzielen. Der bekannte Film meiner Obsessionen spielte sich wieder, nunmehr in einer nicht erfassbaren Geschwindigkeit in meinem Gehirn ab. Als hätte ich niemals zuvor dieses Zimmer verlassen. Eine unglaubliche Wut erfasste mich, ich wollte am liebsten die Zimmertür aufreißen und mir all das von der Seele schreien, was mich in den vergangenen Monaten so tief verletzt hatte. Ich hatte Gewaltfantasien. Ich würde es allen zeigen und … Aber ich sackte nur auf dem Bett zusammen, mir fehlte alle Kraft, meine Kehle war trocken. Ich wusste einfach nicht, was mich noch retten könnte, ich war hilflos und handlungsunfähig, ich hatte kapituliert.
    Nach diesem letzten Aufbäumen ergriff der ganze Verfolgungswahn mit dem dazugehörigen Film völlig die Gewalt über mich, wieder und wieder durchlebte ich die vielen verletzenden Aussagen, die Schmähgesänge der Fans, »Rafati – Du Arschloch!«, die Flucht aus dem Stadion unter Regenschirmen zum Schutz vor Wurfgeschossen und vollen Bierbechern, die wutverzerrten Gesichter der Spieler und Trainer, die auf mich einschrien, Journalisten, die mir hohnlachend ihre Bewertungen in den Kabinengang hinunterriefen – das alles schoss mir immer schneller in einer endlosen Kette von Bildern und Wortfetzen durch den Kopf. »Fußball ist ein Geschäft, das Menschen verbrennt. Jeder darf einen Fehler machen – nur du nicht, Babak.« Immer wieder derselbe Satz. Er ging mir nicht aus meinem immer heftiger brummenden Schädel. Die ganze Ungerechtigkeit schnürte mir die Kehle zu, würgte mich bis zur Atemlosigkeit, wie einen Hofhund, der an seiner Kette reißt. Ich wollte weg – aber ich konnte nicht. Ich riss und zog, aber ich kam nicht davon los.
    Ich hatte diese ganzen Erniedrigungen, die in diesem einen Satz gipfelten, niemals verarbeitet und überwunden. Ich hatte über Monate alles geschluckt, versucht zu verdrängen. Jetzt brach auf einmal alles in mir hoch. Diesem gewaltigen Druck war ich nach dieser schlaflosen Nacht nicht mehr gewachsen. Und bald gab ich jeden Widerstand auf, so sehr war ich diesem Unwetter der Gefühle

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