Ich pfeife auf den Tod!: Wie mich der Fußball fast das Leben kostete (German Edition)
unten zufällig auf einen von der Mainzer Mannschaft oder meine Teamkollegen treffe, sie mich ansprechen und fragen, wohin ich denn wolle? Wie soll ich meinen Zustand erklären? Sie werden mir ansehen, wie ausgelaugt ich aussehe, meine völlig durchgeschwitzten Haare, die schweren Ringe unter den Augen, mein kalkweißes Gesicht. Sie werden augenblicklich wissen, dass irgendetwas mit mir nicht stimmt.
Dieser kurze, erlösende Gedanke einer neuen Flucht hat sich damit zerschlagen. Augenblicklich fühle ich meinen Puls ansteigen, das Pochen in den Schläfen, das Adrenalin, das in meine Adern spült und meine Unruhe weiter verstärkt, eine Unruhe, die nach einem Ausweg sucht, aber keinen findet. Dabei renne ich wie ein eingesperrter Löwe mit unsortierten Gedanken im Zimmer auf und ab, schaue immer wieder auf die Uhr und aus dem Fenster in den heraufdämmernden Tag. Dort sehe ich wieder den Rohbau des Hochhauses, in ca. fünf Kilometern Entfernung. Auf der rechten Seite der Rhein, der in dem qualligen Schwarz seines Wassers die Schiffe vor sich herschiebt. Ertrinken oder stürzen? Ich stocke. Gehe wieder hektisch hin und her. Stocke erneut und schaue nach draußen. Vor dem Gebäude gegenüber steht ein Mann und raucht eine Zigarette, er muss meine hektischen Bewegungen bemerkt haben und starrt zu mir hoch. Ahnt der Mann da unten, was mich umtreibt? Dass ich beginne, darüber nachzudenken, wie ich meinem Leben als letztem Ausweg am besten ein Ende bereiten kann? Ich reiße die Vorhänge zu, was mein Verhalten noch auffälliger machen muss. Ich sinke auf dem Sofa wieder in mich zusammen. Ich weiß jetzt, dass ich nicht mehr wagen werde, das Zimmer zu verlassen. Ich bin endgültig gefangen.
Plötzlich fällt mein Blick auf die Minibar und ich greife aus einem spontanen Impuls, sehr entschlossen nach zwei kleinen Flaschen, hochprozentigem Alkohol, die ich hintereinander einfach in mich hineinschütte, um den Brechreiz zu unterdrücken. Ich trinke nur selten und tatsächlich setzt wie erhofft die benebelnde Wirkung ein. Ich werde endlich ruhiger, kann wieder denken. Nun habe ich wohl einen Ausweg gefunden. Dann geht alles sehr schnell. Ich will nicht mehr und ich kann nicht mehr. Ich habe in diesem Moment den Entschluss gefasst, ich will das beenden. Ich schnappe aus meiner Sporttasche meine Notizen, die ich immer unmittelbar vor dem Spiel zur Vorbereitung einstudiere. Sie sollen mir helfen, kritische Situationen zu verinnerlichen, wie zum Beispiel Handspiele im Strafraum, Ellenbogenschläge, Foulspiele, worauf ich bei meiner Körpersprache achten muss, mein Auftreten gegenüber den Spielern – deutliches Unterstreichen meiner Entscheidungen durch Gesten für die Fans oben auf den Rängen. Ich überfliege meine Leitsprüche, die ich in den letzten schlaflosen Nächten vor dem Spiel zur Selbstmotivation aufgeschrieben habe, um mich stark zu machen für die Prüfung des Spiels. »Du bist FIFA-Schiedsrichter!« und »Du musst Dich vor niemandem verstecken!« »Zeig es Dir – Beweis allen, was Du kannst!« »Brust raus, Arsch zusammenkneifen und dann raus!« »Du bist der Chef im Ring – lass Dich nicht kleinmachen!« Ich will diese Aufzeichnungen entsorgen. Eigentlich kann es mir egal sein, aber wieder schießt mir durch den Kopf, was die Leute von mir denken, wenn man mich findet und diese sehr persönlichen Notizen in die Öffentlichkeit geraten. Hatte Rafati Minderwertigkeitskomplexe? War er gar geistig verwirrt? Was die Leute denken, beschäftigt mich mehr als mein eigener Tod. Ich habe weniger Angst vor meinem Tod als vor der Berichterstattung in den Medien. Ich will nicht, dass man auch noch nach meinem Tod über mich redet, spekuliert, Halbwahrheiten verbreitet. Ich muss die Aufzeichnungen entsorgen, aber im Papierkorb meines Zimmers ist das nicht möglich, denn hier würden sie entdeckt. Die Möglichkeit der Entdeckung versetzt mich wieder so in Panik, dass ich – unter der dumpfen Wirkung des Alkohols – plötzlich einfach so aus meinem Kerker taumle, im Hotelflur nach Papierkörben suche, keine finde und auf der weiteren Suche bis hinunter in die Hotellobby gerate – die ich vorher noch aus Angst vor Entdeckung unter allen Umständen gemieden habe. Ich durchquere die Lobby in fieberhafter Angst vor einer Begegnung. Die Überwachungskameras zeigen bei der Auswertung durch die Polizei später einen nicht besonders auffälligen, bei näherem Hinsehen aber irritiert wirkenden Mann mit leicht wirrem Haar, der –
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