Ich pfeife auf den Tod!: Wie mich der Fußball fast das Leben kostete (German Edition)
und seinen Tee aufbereiten. Mein Vater ist, seit ich mich erinnern kann, Frühaufsteher und erledigt in der Ruhe des Morgens seine Schreibarbeiten. Er war nicht mal erstaunt, dass ich um diese Zeit anrief. Allerdings musste ihm klar sein, dass etwas Außergewöhnliches los war, wenn ich um diese Uhrzeit bei ihm anrief. Er war einfach da und hörte mir zu. Ich nahm alle Kraft zusammen, um ruhig zu sprechen, und erzählte ihm, dass ich nicht schlafen könne und mich unwohl fühle, dass ich den Druck vor dem Spiel nicht länger aushalten würde. Ich sparte alle Details über die zurückliegenden Stunden aus. Mein Vater hatte nicht ansatzweise eine Ahnung dessen, was in mir in den letzten Monaten vorgegangen war. Aufgrund der Doppelbelastung, Bankkaufmann und Fußballschiedsrichter, sah ich ihn vielleicht nur noch einmal monatlich. Somit blieb nicht viel Zeit, über meine Probleme zu sprechen. Wenn wir uns trafen, unterhielten wir uns über allgemeine Dinge. Außerdem wollte ich doch immer Stärke demonstrieren und niemandem meine Gefühle offenbaren, das passte nicht zum Bild des Erfolgsmenschen Babak Rafati, der stolz und unbezwingbar war. Ich wollte meinen Vater auch nicht beunruhigen und vor allem wollte ich, dass er stolz auf mich war.
Er schlug mir vor, mit dem nächsten Zug nach Hannover zu fahren, er werde mich dort am Bahnhof abholen. Er sagte auch, wenn es mir gesundheitlich nicht gut gehen würde, sollte ich das Bundesligaspiel nicht pfeifen und meinen »Chef« informieren. Ich versprach ihm, das zu tun. Das schien die Lösung zu sein. Nach Hause. Dort würde ich bei einer Tasse Tee wieder zu mir kommen und ich würde eine Lösung finden. Ich wollte nur noch ganz schnell weg aus diesem Kerker mit seiner blauen Digitaluhr.
Ohne groß zu überlegen, checkte ich im Hotel kurz nach halb sechs Uhr morgens aus und fuhr mit dem Taxi zum Bahnhof. Es war eine Flucht. Ich war nervös, aber wie erlöst, denn ich musste nicht mehr pfeifen. Aber wollte ich das? War das wirklich die richtige Entscheidung? Das Taxi fuhr los. Auf dem Weg zum Bahnhof, mit jedem Meter Abstand zum Hotel, setzte der Verstand immer stärker wieder ein. Ich überlegte, meine Flucht würde definitiv das Ende meiner Karriere als Schiedsrichter einleiten. Was sollte ich allen anderen erzählen, warum ich weggefahren war? Und wie würde mich die Öffentlichkeit bewerten? Die Fans, die Spieler, die Sportreporter? Das hatte es doch noch nie gegeben, dass ein Schiedsrichter so kurz vor einem Spiel die Heimreise antrat. Auch die Uhrzeit meiner Abfahrt würde Fragen aufwerfen. 6:00 morgens! Während der Fahrt dachte ich, dass ich gleich unseren Obmann informieren müsste, um mich gegen Spekulationen abzusichern, ich wollte erklären, dass ich krank sei, vielleicht vom Essen am Vorabend, und nicht pfeifen könne. Aber plötzlich schien es mir, egal, was ich sagen würde, ich wäre unglaubwürdig. Es hätte so ausgesehen wie das, was es war: eine Flucht aus Angst vor dem Spiel. Meine Handlungen waren so unlogisch, unstrukturiert und unüberlegt. Der Kopf pulsierte, mein Verstand rief meine Gefühle zur Ordnung, jedoch bekam ich keine Struktur in das Für und Wider der Argumente, die in meinem Gehirn kreisten. Ich war außerstande, eine Entscheidung zu treffen.
Wir waren am Bahnhof angekommen und der Fahrer raunzte: »11,50 – Quittung?« Ich war in dem Moment völlig überfordert und sagte, er solle zwei Minuten warten. Ich sei unschlüssig und müsse überlegen. Ich merkte, wie ausgelaugt ich war und dass ich zur Ruhe kommen musste, um das Für und Wider meiner Flucht abzuwägen – was mir aber natürlich nicht gelang. Es wurden 10 Minuten, in denen ich alles hin und her wendete. Der Fahrer wurde entsprechend unruhig und schaute immer öfter in den Rückspiegel, und sicher würde es nur noch kurze Zeit dauern, bis er in diesem übernächtigten, zerstörten Gesicht seines Fahrgastes den Schiedsrichter Babak Rafati erkennen würde, der das Bundesligaspiel der Kölner pfeifen sollte. Das panische Gefühl gewann wieder die Oberhand, sofort ins Hotel zurückzufahren, um mir die Möglichkeit einer weiteren Bedenkzeit zu geben, wie ich die Katastrophe doch noch irgendwie aufhalten könnte. Wäre ich jetzt aus dem Taxi in den Zug nach Hannover gestiegen, hätte ich eine irreversible Entscheidung getroffen. Doch es war mir unmöglich, meine Mission »durchzuziehen« und zu meinem Vater zu fliehen. Ich selbst hätte mir diese Schwäche nicht
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