Ich pfeife auf den Tod!: Wie mich der Fußball fast das Leben kostete (German Edition)
sich dauernd umblickend – etwas hektisch, scheinbar ziellos die Lobby nach etwas Verlorenem absucht.
Erst außerhalb des Hotels, seitlich vom Haupteingang, finde ich endlich einen Papierkorb, in den ich meine eng beschriebenen DIN-A4-Seiten stopfe. Jetzt wären es nur wenige Schritte zu den wartenden Taxis gewesen, der Ausweg, die Fluchtmöglichkeit zum Bahnhof, zum Zug nach Hannover. Ich sehe die Taxis – aber ich komme nicht darauf. Meine Gedanken kreisen nur noch um diese fixe Idee, die mich in Besitz genommen hat, eine Idee, wie dieser unaufhörlich weiterkreisende Film in meinem Kopf zu stoppen ist. Wie unlogisch und dumm mein Handeln eigentlich ist, nehme ich nur noch durch einen Schleier wahr. Ich gehe freiwillig zurück in meinen Kerker, denn ich bin wie von einem Fluch getrieben.
Ich habe unbemerkt die absolut letzte Eskalationsstufe erreicht. Ich knie vor der Minibar und trinke sehr hektisch und hintereinander die restlichen Flaschen hochprozentigen Alkohols aus, sodass ich exzessiv betrunken bin. Ich lasse parallel Badewasser einlaufen. Mit dem Alkohol spüle ich die hundert Baldriantabletten herunter, die ich mir gestern am Bahnhof gekauft habe, weil ich wieder eine weitere unruhige Nacht vor dem Spiel befürchtete. Gleichzeitig krakle ich alkoholzittrige Notizen auf einen Hotelblock, verabschiede mich von meiner Familie, von Rouja, ritze lautlos meine Schreie, meine Angst mit tiefen Kerben ins Papier. Ich schütte nach. Die nächsten zwei Flaschen. Mein Lebenswille kommt zurück, ich merke, dass es gar nicht darum geht, sterben zu wollen – sondern nur darum, endlich diese Kernschmelze in meinem Kopf zum Abklingen zu bringen. Ich will erlöst und befreit sein davon. Die nächsten zwei Flaschen. Ich habe einen Blackout. Als ich wieder zu mir komme, ist mein Film wieder angelaufen. In einem kurzen, lichten Moment merke ich noch, wie ungeheuerlich anklagend und ungerecht das alles ist. Ich zerreiße die Blätter und spüle sie in der Toilette herunter und drehe das Badewasser ab. Ich schreibe weiter, später wird man diese Zettel finden, hilfloses, schon entrückt wirkendes Gestammel eines Wahnsinnigen. Wörter wie Peitschenhiebe. Zerstörerisch. Unbegreiflich und doch so tief aus meinem Inneren entflohen. Ich reiße mir intuitiv die Kleider vom Leib, um in die Badewanne steigen zu können. Jetzt. Mein Adrenalin steigt bis ins Unermessliche an und ich spüre eine Riesenflamme in meinem Körper aufsteigen, die durch nichts mehr zu löschen ist. Ich werde verbrennen. Ich will nicht mehr existent sein. Ich spüre diese Aussagen wie in Schlagzeilen final über meiner zerbrochenen, verwundeten und verletzlichen Gefühlswelt stehen. Mein ganzer Körper wird immer schwerer, ich fühle mich körperlich wie auch seelisch gelähmt. Keine Gedanken, nur noch schweben und absolut nichts fühlen, alles wie im Flug, befreit von allen Verletzungen der letzten Monate. Der Entschluss, es zu tun, ist für mich die Befreiung, endlich bin ich Handelnder und nicht mehr Leidender. Ich komme in einen euphorischen Zustand, ein unbeschreiblich fantastisches Gefühl, aber gleichzeitig tut es auch verdammt weh. Doch ich habe die Grenze des für mich Erträglichen in den letzten Stunden vollständig überschritten und habe jetzt seit Stunden zum ersten Mal endlich reagiert und eine eigene Entscheidung getroffen. Ich werde mich selbst erlösen, diesem miesen Film, der in meinem Kopf tobt, ein Ende setzen. Ich muss weinen, vielleicht weil ich mich sterben sehe. Von nun an leidet nur noch mein Körper und ich muss mich mehrmals hastig übergeben.
Der Rest ist wie ein Film, bei dem ich Zuschauer bin, ich sehe von oben in dieses Badezimmer wie in eine Puppenstube, auf einen Fremden, der ein Sektglas an der Badewannenkante zerschlägt, in einer irrsinnigen Wut beginnt, sich die Unterarme aufzuschneiden. Ein bedingungsloser Kampf, wie es scheint, gegen einen Unsichtbaren, ich sehe seinen Körper, der sich aufbäumt, windet und leben will, während seine Hände versuchen, ihn zu töten, manchmal hastig, manchmal im Zeitlupentempo. Sehe, wie er nach so einer Raserei wieder verzweifelt zusammensackt, während das Blut aus den zahlreichen Wunden, die er sich zufügt, sich stetig mit dem warmen Wasser mischt. Auch Glasscherben, die auf den Grund der Badewanne gesunken sind, fügen seinem Körper tiefe Schnitte zu, ich sehe, wie er sich dreht und windet. Er spürt keinen Schmerz. Nur die Wut, dass es nicht gelingen will, den Film zu stoppen.
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