Ich pfeife auf den Tod!: Wie mich der Fußball fast das Leben kostete (German Edition)
Er nimmt seinen Schal und versucht, sich zusätzlich den stärksten Lebensimpuls zu zerstören, seinen Atem. Sein Körper kämpft. Zuletzt dreht er sich in der Badewanne, mit dem Rücken zur Decke, drückt sein Gesicht unter Wasser und will sich ertränken, aber irgendetwas hält ihn im letzten Moment immer wieder ab. Kurz vor dem Ersticken, kurz bevor er nach Luft schnappen und Wasser einatmen wird, zieht er seinen Kopf aus dem blutroten Wasser. Er greift nach der leeren Bierflasche neben der Wanne und schlägt sie wütend über seinen Kopf, um sein Ende zu beschleunigen, immer wieder, damit er sich nicht länger wehren kann gegen das, was beschlossen ist. Doch seine Schläge sind zu kraftlos, um das Bewusstsein zu verlieren, sorgen nur für weitere Wunden auf seinem Kopf, durch die immer mehr Leben aus seinem Körper in die Wanne strömt. Jetzt erst werden seine Bewegungen langsamer, eine Schwere legt sich über alles.
Ich sehe mich dort in der Badewanne und verschmelze wieder mit dem Bild, fühle mich nur noch schweben, spüre erlöst die Leere und die Stille in Geist und Körper, so wie ich mir das aufs Sehnlichste gewünscht habe, absolut keine Gedanken mehr. Der Ton ist abgedreht. Der Film in meinem Kopf endlich gerissen. Ich habe von meinem Leiden losgelassen, sinke ins Wasser und bin nun in Frieden mit mir, für immer und ewig befreit von diesen unendlich schmerzvollen und qualvollen Gedanken. Jetzt hätte ich nur noch sagen wollen:
»Das bin ich.« Doch ich falle nur noch lautlos in die Dunkelheit.
Höllenqualen
Im Hotel nehmen die Dinge ihren Lauf. Wenn ich geglaubt hatte, meinen Film nun endgültig gestoppt zu haben, dann ist das ein Irrtum. Er fängt erst an. Die Ereignisse der nächsten Stunden überschlagen sich und meine Tat wird das Leben von mir und meiner Familie, von vielen Freunden und auch von 40.000 angereisten Fußballfans verändern, die, statt ein spannendes Spiel zu sehen, wieder zurück nach Hause fahren müssen. Wenn ich damals auch nur annähernd geahnt hätte, was ich damit auslöste und was ich anderen Menschen antat: Ich hätte alles ertragen, um zu verhindern, was dann geschah. Nur: Das setzt rationales Denken voraus – und ich ahnte nicht, wie krank ich zu diesem Zeitpunkt schon war, wie tief gefangen unter dieser Glocke der Selbstzerstörung.
9:00 Uhr: Meine zwei Assistenten Patrick Ittrich und Holger Henschel treffen sich zum Frühstück. Ich nehme nicht teil, kein ungewöhnlicher Vorgang. Mein Team weiß, dass ich kein Frühstückstyp bin. Sie sind gewohnt, dass ich bis zur Abfahrt gerne auf dem Zimmer bleibe, um mich allein auf das Spiel einzustimmen. Mein Fehlen weckt zunächst keinerlei Argwohn, nur bei Rouja, deren Anrufe ins Leere gehen, weil ich um diese Zeit schon auf dem Weg bin, mich von dieser Welt zu verabschieden.
13:30 Uhr: Inzwischen ist auch der vierte Mann, Frank Willenborg, in der Hotellobby eingetroffen. Termin für die Abfahrt zur Schiedsrichterbesprechung im Stadion. Dort gehen wir die Besonderheiten des Stadions, der Spieler, der Trainer, des ganzen Umfeldes durch, damit es keine Überraschungen gibt. Das Team schwört sich noch einmal ein, reine Routine. Spätestens 90 Minuten vor Spielbeginn (15:30 Uhr) ist das Schiedsrichterteam immer im Stadion. Zum einen, um Verspätungen durch Staus und Ähnliches auszuschließen – zum anderen, weil wir noch mal den Platz, die Linien und den Rasen kontrollieren. Ich bin bekannt dafür, dass ich penibel darauf achte, dass jeder auf die Sekunde pünktlich ist. Ich bin noch nie zu spät gewesen und noch nie ist diese Besprechung bei mir ausgefallen. Doch diesmal komme ich nicht. Bei meinen drei Teamkollegen macht sich jetzt zum ersten Mal Unruhe bemerkbar. Sie rufen über mein Handy an, wählen meine Zimmernummer. Keiner hebt ab. Sie fahren hoch in den fünften Stock und klopfen zunächst zaghaft an die Zimmertür, dann hämmern sie mit den Fäusten laut dagegen. Keine Antwort. Vom heftigen Klopfen und Rufen alarmiert kommt eine Hotelangestellte und öffnet die Zimmertür. Das Refereegespann findet mich mit aufgeschnittenen Pulsadern in der Badewanne auf.
Wie die Zeitungen später berichten werden, geht es dann Schlag auf Schlag.
13:40 Uhr: Notärzte und Polizei fahren mit Blaulicht in die Auffahrt des Hyatt-Hotels. Rafati hat viel Blut verloren und ist nicht bei Bewusstsein. Nach der Erstversorgung wird er umgehend ins Holweide Krankenhaus im Stadtteil Köln-Mühlheim gebracht. Bei Spielern und Verantwortlichen
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