Ich schau dir zu: Roman (German Edition)
nicht Phébus, sondern Marcus. Marcus Shahan. Mich nennt niemand mehr Ysé. Ich heiße Sarah Blin. Während der Befragungen hatten wir Zeit, uns einander vorzustellen. Die Ermittlungen dauern nicht lange. Wir haben uns kein einziges Mal widersprochen. Keine Frage. Der gesprungene Spiegel, Harrys Sturz, der Inhalt des Köfferchens – die beiden Polizisten, die den Fall bearbeiten, wissen ganz genau, was sich heute Abend hier abgespielt hat. Mir gefallen weder die Andeutungen noch das heimliche Einverständnis, die bezüglich ihrer persönlichen Einschätzung Bände sprechen. Die weibliche Polizistin lässt keine Gelegenheit aus, mich in Verlegenheit zu bringen, das ist ihre Art, ihre diskreteren Kollegen zu übertrumpfen.
Marcus Shahan rief auf dem Revier an. In einem abgedunkelten Zimmer fanden die Beamten eine benommene Frau vor, einen höchst besorgten Mann und im Untergeschoss die Leiche eines zweiten Mannes. Dass es ein Komplott ist, das zwei teuflische Liebende geschmiedet haben, um den lästigen Gatten loszuwerden, steht außer Frage. Die Fotos, die Harry sorgfältig archiviert hat, sprechen für sich: Man muss nur der chronologischen Ordnung folgen, um die Gewohnheiten und Sexspielchen des Paars zu rekonstruieren. Ganz zu schweigen von den E-Mails, die im Computer gespeichert sind und die sich leicht zu den Korrespondenzpartnern zurückverfolgen lassen. Nur Anne Solé lässt ihre Bekannten Einfluss nehmen, um vor einer Öffentlichkeit, die nach Klatschgeschichten und intimen Enthüllungen lechzt, ihre Anonymität zu wahren. Wenn man dann noch Marcus Shahans Vorgeschichte dazunimmt, ist die Sache glasklar. An dem Unfall bestehen keine Zweifel. Wir gelten als Perverse, die ihre eigenen Exzesse nicht mehr im Griff hatten. Das ist alles.
Am meisten stören mich nicht die Unterstellungen und auch nicht die Fragen der ermittelnden Beamten, sondern die Verachtung, die mir Marcus Shahan entgegenbringt. Er, dem es wenig gefällt, manipuliert worden zu sein, mustert mich mehr, als dass er mich ansieht. Ich empfinde Unbehagen dabei, Scham gar. Ich habe das Gefühl, er hält mich mindestens für genauso schuldig wie meinen Mann, auch wenn ich nicht die treibende Kraft war. Durch mein Einverständnis bin ich mitschuldig. Und nachdem Harry tot ist, muss ich jetzt für uns beide bezahlen.
Vielleicht hat er recht. Ich bin zu alt für eine dressierte Gattin, die gerade mal aus dem Backfischalter raus ist. Reicht meine Verbundenheit mit Harry aus, um meinen schwachen Widerstand zu erklären? Rechtfertigt das die Unterstellung, mein Verhalten würde über eine einfache Neigung zur Unterwürfigkeit hinausgehen? Wenn ich mich das frage, ertappe ich mich dabei, dass es mir bereits leidtut, Phébus nun nie mehr wiederzusehen. Bei nur drei Treffen hat dieser Mann es geschafft, mich in seinen Bann zu ziehen. Ich sehe wieder deutliche Bilder vor mir. Ganz deutlich. Mein Körper speichert prägnante Erinnerungen. Wenn ich daran denke, bin ich erschüttert – ist weiterhin Ysé erschüttert.
Phébus hat Sarah zurückgewiesen. Nicht Ysé. Daran denke ich, als er sich herablässt, mir während der Befragung durch die Polizei einen Blick zuzuwerfen. Ich denke sogar, dass ich wieder versuchen könnte, Kontakt mit ihm aufzunehmen. Später. Wenn ausreichend Zeit vergangen ist.
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