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Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)

Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)

Titel: Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rayk Wieland
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Visionen, weil die Partys dieser Freundin offenbar eine Neigung zum Ausufern hatten.
    »Leute, die nie auffallen, reißen sich plötzlich die Kleider vom Leib. Einmal klingelte es an der Tür, und ein alter Bekannter, den jeder für tot gehalten hatte, stand da.«
    »Das macht doch Hoffnung«, sagte ich.
    »Ja«, sagte sie, »es kann aber auch in die andere Richtung gehen.«
    Als wir eintrafen, sah ich das Malheur. Es war, wie bestellt, die erste DDR-Motto-Party der Weltgeschichte, und ich war leider der erste und auch einzige O-Ton-Augenzeuge aus dem Herkunftsland vor Ort. Zahllose Menschen standen in den Fluren, offenbar alles Schauspieler und Theaterleute, die in einer Tanztheater-Performance von »Warten auf Godot« mitwirkten, die gerade angelaufen war. Schwarz gekleidet, schrill frisiert, mit dicken Brillen, sahen sie haargenau aus wie Schauspieler und Theaterleute, die wie Schauspieler und Theaterleute auszusehen versuchten. Sie waren auf Expedition im Osten der Stadt gewesen, von welcher sie ihre Beutestücke mitgebracht hatten. Auf der HiFi-Anlage drehten sich Amiga-Platten mit Melodien von Karat, Stern Combo Meißen und Dean Reed. In der Küche, an deren Decke sich ein riesiger Ventilator wie ein Flugzeugpropeller drehte, gab es ein Buffet mit vertrauten, allzu vertrauten Waren des täglichen Bedarfs: Club-Cola, Spreewaldgurken, Halberstädter Würstchen, Knäckebrot »Filinchen«,Tempo-Linsen, Heringsfilets mit Tomatencreme, Bautzener Senf, Dresdner Worcestersoße und Sauerkraut vom Obst- und Gemüseladen.
    Sehr komisch. Die Mauer fällt, die DDR bricht zusammen, niemand will mehr etwas von ihr wissen, und ich lande ausgerechnet auf einer DDR-Party mit Konsum-Zone.
    Liane stellte mich vor, Liane führte mich herum, Liane war an meiner Seite.
    »Das ist W., du weißt schon, mein Freund aus Ostberlin.« – »Hallo!« – »Hi!« – »Timo!« »Grüß dich, du kleine Diva!« – »Sag das nicht noch einmal!« – »Aus dem Osten?« – »Jetzt sind sie also schon hier!« – »Liane! Schön, daß du da bist!« – »Hallo Henriette, das ist W.« – »Der W.!« – »Genau der!« – »Hallöchen!« – »Hallöchen!« – »Habe ich dich nicht irgendwo schon mal gesehen?« – »Niemals!«
    Es war eine Wohnung mit hundert Zimmern, möbliert mit hundert Leuten.
    »Und hier: Das ist Vince, der gerade die Performance gemacht hat, ›Warten auf Godot‹. – »Geht gerade riesig ab bei euch in der Zone, was!« – »Ohne Godot geht’s eben auch.« – »Hab noch versucht, die Mauer mitzunehmen. Aber sie ist ja schon durch. Wahnsinn!«
    Ich nickte. Und sah mich nach Getränken um. Hoffentlich hatten sie nicht nur DDR-Wein hier. Im Bad, hieß es, sei Bier. Ich ging um Ecken und durch Gänge, vorbei an Gruppen und Grüppchen, die sich allem Anschein nach noch nicht entschieden hatten, ob sie mich für einen Experten oder einen Ahnungslosen halten sollten. Irgendwie geriet ich in den Kreisverkehr, plötzlich stand ich wieder am Ausgangspunkt, wo die Begrüßungsorgie immer noch auf Hochtouren lief.
    »Neeiiiiiin!« – »Doch!« – »Ich glaub’s nicht, Li-a-ne!« – »Wolfgang! Ich wußte gar nicht, daß du in Berlin bist?« – »Ich auch nicht.« – »Nein!« – »Ja!« – »Und das ist?« – »Das bin ich.«
    Ich nickte schwach.
    »Klaus!?«– »Wer verlangt nach mir?« – »Darf ich vorstellen: W. aus dem Osten.« – »W.? Das ist Klaus.« – »Klaus.« – »Das ist: W.« – »Alles klar?« – »Es wird immer klarer.« – »Und hier Claudia, meine beste Freundin! Die Gastgeberin!« – »Hey, der Super-Zoni. Sieht gar nicht aus wie von drüben!«
    Ich fühlte mich wie mein eigenes Phantom.
    Im Bad, das ich nach einigen Rundgängen entdeckte, sah ich zu meiner Erleichterung, daß für alles und vor allem für mich gesorgt worden war. Die Badewanne – auch hier also das wichtigste Einrichtungsstück – war randvoll mit Bier, Wein, Sekt. Drumherum Flaschen über Flaschen. Sorten, die ich nicht kannte, Sorten, die ich heute, nahm ich mir spontan vor, kennenlernen würde. Die Namen der weiten Welt: Curasao, Ballantines, Gordon’s Gin, Absolut Vodka und und und. Als ich zurückkam, hatte ich drei Bier unter den Arm geklemmt, rechts in der Jackentasche eine Flasche Bacardi und links eine Flasche Herradura-Tequila, in je einer Hand eine Flasche Rot- und eine Weißwein, und dazwischen balancierte ich kunstvoll ein Glas Sekt für Liane.
    Wieder gab’s ein starkes Hallo, Huhu und Hey-hey. »Sieh an,

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