Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)
auch reichlich ramponierter, so doch immer noch matt glänzender Spielzeugring.
In diesem Moment erblickte ich Liane, die offenbar schon länger in der Tür stand. Sie musterte mich wie einen sehr entfernten, schon totgeglaubten Bekannten, dem sie unverhofft wiederbegegnet war. Und dann entdeckte sie den Ring in meiner Hand. Ihr Gesicht, ihre Mimik fror ein wie in Superzeitlupe. Die anmutigen Züge verschoben sich zu einer verzerrten, starren Grimasse des Entsetzens. Sie begann zu zittern.
»Der Ring!« flüsterte sie, »das ist … das ist … das Ende. Wir werden sterben.« Und während sie »mit Grausen«, wie Schiller, hier zur Stelle, gedichtet hätte, sich von mir abwendete, ergänzte sie: »Ich will dich nie wieder sehen.«
Am nächsten Tag erwachte ich mit einem überdimensionalen Monstrum von Kater, der mich jedoch keineswegs davon abhielt zu registrieren, daß Liane nicht da war. Sie tauchte auch am übernächsten und dem folgenden Tag nicht auf. All die Monate und Jahre, die ich zuvor ausgeharrt hatte, waren nichts gegen diese drei unendlichsten Tage meines Lebens. Am Mittag des vierten klopfte es, aber es war nicht sie, sondern Godot, auf den man offenbar überhaupt nicht warten mußte, alias Vince, der ein paar Sachen von ihr abholen kam. Er tat es in relativer Schweigsamkeit, die ich mit relativer Schweigsamkeit beantwortete.
Ich fragte ihn, ob er wisse, wie es ihr gehe.
Er sagte, es gehe ihr besser.
Ich gab ihm noch einen Brief mit, darin ein am Tag zuvor geschriebenes Gedicht, eine letzte Exekution des Konjunktivs, für Liane.
W ARTEN NACH G ODOT
Auch dieser Tag ging nicht vorbei
Und stand hilflos herum wie ei-
Ne Zimmerpflanze, die’s nicht bringt
Und dumpf im Staub der Zeit versinkt.
Am Morgen war es noch bizarr,
Wie nichts passierte, wie nichts war,
Bis auf die Müllabfuhr, die kam
Und lärmend ihren Müll mitnahm.
Nichts tat sich. Bloß ein Schatten kroch,
Ein schwarzes Monstrum, eben noch
Über die Hauswand vis-à-vis.
Was hätte sein können, war nie.
Sie muß es gelesen haben, immerhin. Jahre später fragte sie mich brieflich, ob sie es für ein Godot-Programmheft nehmen dürfe, und schickte es mir dann zu.
Briefe – wir schrieben noch einige, hauptsächlich ich. Liane berichtete von ihrem Schauspielstudium am Max-Reinhardt-Seminar in Wien, das sie begonnen hatte. Ich schrieb von meinen Plänen, einen Billard-Salon zu eröffnen oder doch weiter Philosophie zu studieren und über mein altes treues Steckenpferd, das Nichts, zu promovieren.
Lange Pausen dominierten das Geschehen.
Vor kurzem kam wieder Post von ihr, die ich in einem Reflex der Geistesabwesenheit beinahe zu den anderen Briefen in die Akte geheftet hätte. Sie meldete, geheiratet zu haben, und bat um Entschuldigung, daß ich zur Hochzeit nicht eingeladen gewesen sei. Ich wisse sicher, könne es mir denken, mir selbst beantworten, die alte Sesamstraßenfrage wiesoweshalbwarum,sorry. Sie teile es mir mit, damit ich mich nicht wundere, sie habe jetzt einen neuen Namen.
Ich schaute auf den Absender auf dem Umschlag. Da stand in ihrer vertrauten, geschwungenen, geliebten Schrift: »Liane Schnatz«.
Heirat hin, Heirat her, dachte ich, so würde ich vielleicht nicht unbedingt heißen wollen.
Schnatz? Wer hieß freiwillig Schnatz?
Es dauerte eine beträchtliche Weile, bis sich in mir die Erkenntnis über die Bekanntschaft mit diesem Namen einen Weg hin zur aktiven Wahrnehmung bahnte. Schnatz! Mein Oberleutnant Schnatz!
Sie wird doch nicht!
Er hat doch nicht!
Niemals. Unvorstellbar. Nein. Nicht einmal als Gedankenspiel.
Einerseits, es hätte etwas. Etwas mit der, sagen wir, Grundperfidie des Daseins durchaus nicht im Widerspruch Stehendes, durchaus Plausibles, wenn nicht sogar Harmonisierendes.
Andrerseits wäre es vielleicht zu passend, schon zu perfekt, zu göttlich.
»Schatz« stand da ja auch, »Liane Schatz«.
Das Lesen, ein Traum.
15
E S IST, ALS HABE MAN DEN R ITTERSCHLAG der Sinnlosigkeit empfangen. Gesehen, erlebt und erfahren, wie ein Staat, ein Apparat, eine ganze Welt unterging, eine Epoche der Weltgeschichte verschwand, sich selbst zu Müll manövrierte, ins Nichts verabschiedete mit all ihren Stempeln, Briefmarken, Düften, Frisuren, Autokennzeichen, kreischenden Straßenbahnen, Plattenbauten, Pionierappellen, mit den Haustürklingeln, die fehlten, den Dächern, die nicht dicht waren, dem Kaffee, der nicht nach Kaffee schmeckte, mit dem Kommunismus, der kein Kommunismus sein konnte, mit
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