Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)
dem Fußboden verstreut die Kleider der beiden Kellnerinnen, nein: die Tischdecken liegen, die zwecks Stühlehochstellen einfach heruntergeworfen worden waren.
Es war Feierabend.
Die Tür der »Lotus Bar« schloß sich endgültig hinter uns, dem Polizisten und mir. Einen kurzen Moment standen wir noch auf der Straße, umkurvt vom Menschenstrom, der sich sturzbachartig Richtung Mauer ergoß. Die Cigarre dampfte noch etwas in meiner Hand, bis ein letzter Rauchfaden sich von der Spitze der matten Glut abseilte, kringelte, dann zielstrebiger nach oben driftete und sich zu einer steilen Linie formierte, die plötzlich abriß.
Ich verabschiedete mich von meinem Freund und Helfer, dem Volkspolizisten, vielleicht habe ich ihm sogar gedankt, und schob mich in die Menge, die zum Grenzübergang BornholmerStraße abtrieb. Die Mauer, siehe da, war tatsächlich offen, wenn auch ihre Öffnung dem ominösen Nadelöhr glich, durch das zahllose Trampeltiere gleichzeitig drängten. Wie ein Pfropfen verklumpten sich die Massen, von einem irren Freudenrausch ergriffen, vor dem eine Handbreit geöffneten Tor, und ich zögerte, mich in den Trichter zu werfen, um drüben, auf der anderen Seite, in Ruhe noch einen Cuba Libre und eine Cigarre zu nehmen.
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A USGEMACHT WAR , DASS ICH, wo die Grenzen offen waren, jetzt nach München fahren sollte, daß ich so schnell wie möglich nach München fahren sollte, aber nicht nur die anhaltende Badewannen-Apathie hielt mich vorerst davon ab, sondern etwas anderes, mit dem ich nicht gerechnet hatte.
Ich kam gerade aus der Stadt, aus Westberlin – kein Problem, man mußte nur den Ausweis zeigen –, wo ich beim Blutspendedienst gewesen war, der im Wedding, wie ich erfahren hatte, eine mobile Station unterhielt. Für eine Spende sollte es 40 Mark geben, 40 D-Mark. Eine phantastische Summe. Die Umtauschkurse pendelten zwischen 1 : 4, 1 : 5 und sogar 1 : 10. Wenn ich das Geld mit Glück in DDR-Mark zurücktauschte, konnte ich ein paar Monate Urlaub an der Ostsee machen. Auf dem Flohmarkt am Paul-Lincke-Ufer bekam man dafür ein Paar gebrauchte Puma-Knöchelturnschuhe. Ich würde entweder zwei DDR-Jahresmieten in der Tasche haben oder vier Stunden in Franks Billardsalon in Kreuzberg. Alternativen, die surrealistischen Séancen entsprungen zu sein schienen – aber wie sie entscheiden?
Dazu gab’s, oder hätte es gegeben, das sogenannte »Begrüssungsgeld«, das für DDR-Bürger bei Banken und Sparkassen im Westen der Stadt bereitlag, immerhin 100 D-Mark, die ich aber aus psychischen Gründen nicht in Anspruch nehmen konnte, erst recht nicht, als ich die Schlangen an den Schaltern erblickte, die sich kreisförmig umeinander, mehrfach um die Häuser und bis sonstwohin wanden.
Die Schwestern beim Blutspendedienst, den ich nachlängerem Herumsuchen in abgelegenen Seitenstraßen im abgelegenen Wedding entdeckt hatte, waren überaus freundlich. Es gab belegte Brötchen, Kaffee, Tee, Orangensaft, Apfelsaft und stilles Wasser mit dem für Ostdeutsche verdächtigen Namen »Staatl. Fachingen«. Ich hatte ein paar Angaben zu machen und auf einer Liege Platz zu nehmen. Dann wurde Blut abgenommen. Ich mußte noch eine Weile liegen bleiben. Als ich nach dem Geld fragte, erfuhr ich, daß die erste Spende unhonoriert bleibe. Hier seien Gummibärchen, ich könne mich bedienen. Geld gebe es beim nächsten Mal, wenn ich wolle, schon in sechs Wochen.
Das war die Lage, die Situation, als ich, geschwächt, verärgert und mit einer Ladung lächerlicher Gummibärchen-Tüten in der Jackentasche, die Treppen zu meiner Wohnung erklomm und eine Erscheinung hatte, eine anämische Sehstörung, eine ganz klare Hinterhof-Fata-Morgana von einem Mädchen, das unterhalb meiner Wohnung auf dem Absatz saß und mich an Liane erinnerte, ja, nein, doch, Liane war.
Ich wollte es nicht glauben.
Ich konnte es nicht glauben.
Sie.
Die Badewanne – mit einem Mal war sie der Hit. Wir blieben sieben Tage drin. Gleich nachdem wir meine Wohnung betreten hatten, schloß sie die Tür von innen ab, nahm den Schlüssel und warf ihn aus dem Fenster. An diesem Schlüssel hing, noch vom Vormieter, ein Ring, so ein Spielzeugschmuck für Kinder, der wie eine kleine Sternschnuppe durch den dunklen Abendhimmel sauste. Dann küßten wir uns. Wir küßten uns lange, sehr lange – wenn auch nicht ganz so lange, wie ich es ein paar Jahre zuvor in einem Gedicht für sie projektiert hatte, das Oberleutnant Schnatz artig aus einem Brief von mir an sie
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