Ich schreib dir morgen wieder
oder getan hat, und ihnen rückblickend jemand – vielleicht der Teufel – ins Ohr flüstert, dass sie damals glücklich waren. Nein, dass ich solche Kleinigkeiten mitnahm, war echt nur wie ein bisschen Munition. Nicht aus Sentimentalität, sondern einfach nur, um mich gegen meine Unsicherheit zu verteidigen und damit ich mich in der Fremde nicht total allein fühlte.
Zu Rosaleens und Arthurs Torhaus hatte ich nun wirklich gar keine innere Verbindung, ich war ja erst ein paar Tage da. Aber trotzdem nahm ich das Buch, das ich in der mobilen Bibliothek gefunden hatte, auf den Ausflug zu Zoey mit. Ich hatte das Schloss immer noch nicht aufbekommen und eigentlich auch nicht vor, in Dublin zu lesen. Wie hätte ich dazu auch Zeit finden sollen, wo meine Freundinnen ständig neue, hochinteressante Geschichten auftischten, zum Beispiel – jetzt haltet euch gut fest! –, wie viel Spaß es mache, ohne Unterwäsche rumzulaufen. Also ehrlich. Ich bekam erst mal einen Lachanfall. Zur Veranschaulichung hielten sie mir ein Foto von Cindy Monroe unter die Nase, einer Tusse aus irgendeiner Reality-Show – vierzig Kilo, grade mal eins fünfzig –, wie sie, nachdem sie wegen Trunkenheit am Steuer zwei Tage im Knast verbracht hat, aus dem Auto steigt. Und offensichtlich keinen Slip trägt. Zoey und Laura schienen das für einen großartigen Beitrag zur Emanzipation der Frau zu halten. Ich glaube, als die Feministinnen damals ihre BH s verbrannt haben, hatten sie nicht unbedingt solche Aktionen im Sinn, aber als ich eine dahin gehende Bemerkung machte, sah Zoey mich mit zusammengekniffenen Augen an – wie die Herzkönigin, wenn sie überlegt, ob jemandem der Kopf abgehackt werden soll. Aber dann riss sie die Augen wieder auf und sagte: »Also mein Top war total rückenfrei, da konnte ich auch keinen BH anziehen.«
Total rückenfrei. Endgültig tot. Schon wieder einer von diesen Doppelausdrücken. Entweder war das Top rückenfrei oder nicht. Und ich habe keinerlei Zweifel, dass es tatsächlich rückenfrei war.
Jedenfalls, als ich zu Zoey geschickt wurde – wobei »geschickt« das ausschlaggebende Wort ist –, kam ich mir vor, als hätte man mich in die Ecke gestellt, damit ich darüber nachdenken konnte, was ich verbrochen hatte. Obwohl ich mich eigentlich hätte freuen sollen, nach Hause zu fahren und endlich wieder ein richtiger Mensch zu sein, fühlte es sich irgendwie überhaupt nicht so an. Und deshalb nahm ich ein Stück meiner neuen Welt mit. Als ich dann im Gästebett in Zoeys Zimmer lag und wir uns die ganze Nacht über alles Mögliche unterhielten, wusste ich, dass das Buch, dieser fremde Gegenstand aus meinem verabscheuten neuen Leben, da war, mithörte und einen Einblick in das Leben bekam, das ich einmal gehabt hatte. Ich hatte einen Zeugen. Am liebsten hätte ich dem Buch gesagt, es solle zurückgehen und all den Dingen dort, die ich hasste, von meinem früheren Leben erzählen. Das Buch war mein kleines Geheimnis, von dem Laura und Zoey nichts ahnten, vielleicht unsinnig und langweilig, aber trotzdem ein Geheimnis, das neben mir in meiner Reisetasche lag und mir ganz allein gehörte.
Als Arthurs Landrover wieder in den Seiteneingang des Kilsaney-Anwesens zum Torhaus abbog und ich wieder von meinem neuen, ausweglosen Nicht-Leben verschluckt wurde, beschloss ich deshalb, einen Spaziergang zu machen und das Buch mitzunehmen. Ich wusste zwar, es würde Rosaleen umbringen, wenn ich nicht gleich zu ihr reinstürzte und ihr alles über den neuen Unten-ohne-Trend erzählte, aber da ich es schon immer für meine Pflicht gehalten hatte, andere Menschen zu bestrafen, machte ich mich unverzüglich auf die Socken. Außerdem ahnte ich, dass Mum noch immer auf demselben Fleck sitzen würde – im Schaukelstuhl, ohne zu schaukeln –, und wollte dieses Bild lieber noch eine Weile mit der angenehmen Illusion verdrängen, dass sie ja auch nackt draußen im Garten herumtanzen könnte. Oder so.
Bisher war ich noch nie um das Grundstück herumgegangen. Zum Schloss und wieder zurück, das schon, aber ich hatte die gut hundert Morgen des Anwesens noch nie umrundet. Bei meinen früheren Besuchen hier hatten wir immer nur in der Küche gesessen, Tee getrunken und Schinkensandwiches gegessen, und Mum hatte sich mit meiner seltsamen Tante und meinem sonderbaren Onkel über Dinge unterhalten, die mich nicht die Bohne interessierten. Ich hätte fast alles getan – sogar zwanzig matschige Eiersandwiches und zwei Stücke von
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