Ich sehe dein Geheimnis
verbracht. Sie war achtzehn. Ich kenne ihren Nachnamen nicht, aber ihr Vorname war Vicki. Die Kurzform von Victoria, glaube ich.«
Ich musste schlucken. »War sie eine Touristin?«
»Ja. Sie nahm mich mit in ihr Motelzimmer.«
»Erzähl mir das nicht.« Ich vergrub mein Gesicht in den Händen. Wenn er es nicht sagte, wäre es nicht wahr. Wenn er die Worte nicht ausspräche, passierte das hier vielleicht nicht.
»King’s Courtyard.«
Mein Magen krampfte sich zusammen. »Mit wem war sie hier?«, fragte ich und hoffte immer noch, das alles sei ein Witz oder ein dummer Zufall.
Seine Stimme war flach und ausdruckslos: »Mit niemandem. Ich habe sie im Yummy’s getroffen. Sie war sehr wütend. Es ging darum, dass ihre beste Freundin sie hintergangen hatte, dass das, was sie hier auf Cape Code wollte, nicht funktionierte und nichts in ihrem Leben je funktionierte und so weiter. Ich wollte sie aufmuntern, wir kamen ins Gespräch und dann, na ja du weißt schon.«
»Perry.« Ich schüttelte den Kopf. Auf einmal sah er nicht mehr aus wie mein selbstbewusster großer Bruder, sondern wie ein ängstliches Kind.
»Wie stehen die Chancen, dass noch eine Vicki Samstagabend allein im King’s Courtyard war?«, fragte er mit schwacher Stimme.
»Nicht gut«, antwortete ich und kaute auf meiner Unterlippe herum. Die Frage, die ich als Nächstes stellte, widerstrebte mir, aber ich musste sie stellen. »Weißt du, wer es getan hat?«
Er schüttelte den Kopf und starrte in den Sand. »Sie war lebendig und zufrieden, als ich ging. Sie hat mich eingeladen, bei ihr zu übernachten, aber ich wollte wieder zu Hause sein, bevor Mom merkte, dass ich so spät noch weg war. Also ließ ich sie zurück.« Seine Stimme wurde brüchig. »Und jetzt ist sie tot.«
Ich wusste, dass Perry ein Aufreißer war, aber normalerweise unterhielten wir uns nicht über seine Eskapaden. Ich wollte keine Einzelheiten aus seinem viel zu bewegten Liebesleben wissen. Diesmal aber musste ich ihn fragen und nahm meinen Mut zusammen: »Hast du mit ihr geschlafen?«
Er senkte den Blick und nuschelte: »Ja.«
Damit war mein Gefühlschaos perfekt: Ich war wütend auf Perry, weil er sich so verantwortungslos verhielt, besorgt, welche Folgen die Sache für ihn haben würde, panisch, dass Mom alles herausfinden und zusammenbrechen könnte. Und zornig auf Perrys Hurerei, die Ursache allen Übels.
»Du kanntest sie nicht einmal!«, schrie ich ihn an.
»Sie wollte es!« Er sprang auf und verursachte dabei einen kleinen Sandsturm. »Was hätte ich denn sagen sollen? Nein? Clare, ich bin achtzehn Jahre alt. Wenn sich so eine Chance bietet, ergreife ich sie.«
»Halt einfach die Klappe, Perry. Ich will gar nicht darüber nachdenken.«
Ich schlug die Hände vors Gesicht. Er setzte sich wieder und wir schwiegen eine Weile. Langsam verrauchte mein Zorn. Er hatte recht. Welcher Junge, der Single war, würde so ein Angebot ablehnen? Ja, das Ganze war blöd, aber es könnte schlimmer sein. Er hätte dort bleiben und selbst erschossen werden können. Darüber konnte ich nicht einmal nachdenken. Stattdessen konzentrierte ich mich auf das gegenwärtige Problem. Ich musste meinen Bruder schützen.
»Hat jemand gesehen, dass du das Restaurant gemeinsam mit ihr verlassen hast?«
Er zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. Der Laden war voll. Es war nicht nur Samstagabend, sondern auch noch die Woche mit dem meisten Trubel im ganzen Jahr. Einfach jeder war da.«
»Wer ist jeder?«
Perry sah zum schwarzen Himmel, als wüssten die Sterne die Antwort. »Ich kann mich nicht erinnern.«
»Das ist nicht gut, Perry.« Ich hielt kurz inne und spielte alle Möglichkeiten durch. »Behalte die Geschichte vorerst für dich.«
»Du musst es der Polizei erzählen, Clare. Du arbeitest jetzt mit denen zusammen.«
»Ich muss nichts dergleichen«, widersprach ich ruhig. Ich hatte mein Gefühlschaos geordnet und wusste jetzt genau, was zu tun war.
»Ich war in der Nacht mit ihr zusammen, in der sie umgebracht wurde«, sagte Perry. »Dadurch bin ich ein Hauptverdächtiger. Wenn wir das verschweigen, machst du dich der Beihilfe schuldig oder so. Ich will nicht, dass du Schwierigkeiten bekommst, indem du der Polizei oder Justin diese Sache verschweigst.«
Ich stand auf und klopfte mir den Sand von der Kleidung. »Die Polizei und Justin können mich mal. Die Familie geht vor. Halt deinen Mund.«
Ich ging nach Hause. Perry lief mit hängendem Kopf ein paar Meter hinter mir und sah aus wie ein
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