Ich sehe dein Geheimnis
Wirkung auf Menschen.
Ihr langes, glattes schwarzes Haar reichte fast bis auf die Schultern und ihre Handtasche war so viel wert wie das Auto meines Bruders. Stephens Mutter war nicht in die traditionelle angelsächsisch-protestantische Oberschicht hineingeboren worden. Gerüchte besagten sogar, dass sie eine schwere Kindheit hatte und von einer Pflegefamilie zur nächsten weitergereicht worden war. Aber sie hatte von Höherem geträumt und das passende Aussehen dazu. Wer sich einen Mann wie Dallas Clayworth angelt, verändert sich von Grund auf. Und so hatte sie sich in einen Snob verwandelt.
»Ich möchte mich für das Verhalten meines Sohnes entschuldigen«, sagte Cecile mit weicher Stimme.
Wenn Cecile Clayworth etwas hasste, dann eine Szene. Um jeden Preis wollte sie eine vermeiden. Jedes Mal, wenn Stephen in Schwierigkeiten war, tat Cecile so, als sei nie etwas vorgefallen.
Sie nahm ihre übergroße Hollywood-Sonnenbrille ab und betrachtete den kleinen Menschenauflauf, der sich dank Stephens Ausbruch gebildet hatte. Ihr Blick sagte: »Geht weiter.« Und das taten die Leute.
Sie flüsterte Stephen etwas ins Ohr, woraufhin der sofort zur nächsten Bank schlurfte und sich setzte.
Dann wandte sie sich uns zu und sagte leise: »Sie müssen meinen Sohn entschuldigen. Ich glaube, die Wahl hat uns allen in letzter Zeit Stress bereitet.« Sie setzte ein graziles Lächeln auf.
Dann war sie verschwunden, genauso schnell, wie sie gekommen war. Die drohende Schlägerei – bei der ich übrigens auf Perry gewettet hätte – hatte sich in Luft aufgelöst. Mit ihrem stilvollen, beschwichtigenden Auftreten hatte Cecile ihren Sohn unauffällig vom Ort des Geschehens weggelotst wie einen kleinen ungehorsamen Jungen.
»Gehen wir nach Hause«, sagte Perry und legte einen Arm um Mom.
»Geht ihr beide ruhig«, antwortete ich. Jetzt war ich ohnehin nicht mehr in der Stimmung für einen Film. »Ich gehe ein bisschen am Strand spazieren, um einen klaren Kopf zu kriegen. Ich muss mich gleich morgen früh mit Justin und Gabriel treffen und mit der Suche nach Victoria Happels Mörder beginnen.«
Perrys Arm glitt von meiner Schulter.
»Was ist?«, fragte ich. »Du weißt doch, dass Justin mich gebeten hat, an diesem Fall mitzuarbeiten.«
Er nickte bloß.
Was war sein Problem? Dann wurde es mir klar. Mein Bruder und sein übertriebener Beschützerinstinkt.
Ich tätschelte ihm den Kopf. »Für mich wird das nicht gefährlich, Perry. Mach dir keine Sorgen.«
Mit diesen Worten drehte ich mich um und folgte dem Geräusch der Brandung.
Ich habe das Meer schon immer geliebt: den Salzgeruch in der Luft, den Sand unter meinen Füßen, den Wind in meinem Haar. Justin und ich hatten viel Zeit am Strand verbracht. Drüben am Bootsanleger hatte er mir meinen allerersten Kuss gegeben. Dass ich ihn liebte, war mir klar geworden, als wir unter der Uferpromenade Händchen hielten. Sogar im Winter waren wir am Strand spazieren gegangen und hatten gelacht, wenn der Wind uns die Haare ins Gesicht blies.
Ich war über einen Monat lang nicht am Strand gewesen.
Jetzt aber war ich froh, dorthin zurückzukehren. Beim ersten Mal nach der Trennung hatte ich noch geweint. Doch jetzt gehörte der Strand wieder mir. Ich konnte die Erinnerungen an Justin ignorieren und mich auf die Schönheit des Ozeans konzentrieren.
Ich ließ mich im Sand nieder und schloss die Augen. Ich war so versunken in das rhythmische Auf und Ab der Brandung, dass ich die Schritte hinter mir nicht hörte. Dass jemand hinter mir stand, merkte ich erst, als ich die Hände auf meinen Schultern spürte.
Sieben
Ich sprang entsetzt auf.
Perry wich zurück. »Ich dachte, du hättest mich kommen gehört.«
»Nein, habe ich nicht. Du hast mich erschreckt.«
»Tut mir leid.« Er setzte sich neben mich und schaute mich an. Er sah seltsam aus: Die Augen stumpf, das Gesicht regungslos, als habe er einen Schock erlitten.
»Was machst du hier draußen? Ich dachte, du wärst nach Hause gegangen.«
Er blickte aufs Meer hinaus. Das Licht des Halbmonds schimmerte auf dem Ozean und verlieh den kleinen Wellen einen metallischen Glanz. »Ziemlich ruhig heute Nacht, stimmt’s? Keine besonders raue See.«
Netter Versuch. Ich wartete darauf, dass er meine Frage beantwortete. Als er das nicht tat, sagte ich: »Du verhältst dich seltsam. Was ist los?«
Er sah mich an. »Samstagabend war ich mit einer Vicki zusammen.«
»Was? Wer ist Vicki?«
»Ich habe den Samstagabend mit einem Mädchen
Weitere Kostenlose Bücher