Ich sehe dein Geheimnis
gelassen.
Ich setzte mich allein an einen Tisch und bestellte ein Eis mit heißer Schokoladensauce. Ich hatte vor, so lange hier zu sitzen und zu essen, bis ich diesen fürchterlichen Tag vergessen hatte – und mit ihm alles, was ich heute erlebt hatte: Den Anblick einer Leiche. Den Streit mit Mom. Perrys Geständnis, die Flyer abgerissen zu haben. Tiffanys Worte, die mich umso mehr verletzten, weil sie zutrafen. Die ergebnislosen Ermittlungen. Vor allem aber wollte ich vergessen, wie ich mich gefühlt hatte, als ich Justin beim Bankett gesehen hatte. Gerne hätte ich all meine Gefühle für ihn mit einem Zauberwort zum Verschwinden gebracht.
Vielleicht brauchte ich eine Gehirnoperation.
Jetzt würde ich jedenfalls erst einmal etwas essen.
»Welche Ausrede hast du?«
Offensichtlich ließ man mich auch im Yummy’s nicht in Ruhe. Ich drehte mich zu Gabriel um, der mit einem Getränk in der Hand hinter mir stand.
»Wofür?«
»Diesen Eisbecher anzustarren, als hättest du sonst keine Freunde. Ich weiß wenigstens, warum ich alleine hier bin.«
»Und warum?«
»Mein Vater wurde heute vom Bürgermeister zusammengestaucht, weil die Ermittlungen nicht vorangehen. Es ist sein erster Fall hier in Eastport und es ist nicht nur so, dass er immer noch ungelöst ist, sondern die Zahl der Leichen hat sich auch noch verdoppelt.« Er nahm einen großen Schluck aus seinem Glas. »Jetzt bist du dran.«
»Ich verstecke mich vor allen, die ich kenne.«
»War es so schlimm beim Bankett?«
»Woher weißt du, dass ich dort war?«
Er sah auf meine Beine. »Normalerweise ziehen sich die Mädchen für einen Abend im Yummy’s nicht so an.«
Mein Kleid hatte ich ganz vergessen. Ich zupfte vergeblich am Saum – es wurde nicht länger. »Und was machst du hier?«
»Dad arbeitet rund um die Uhr, deshalb gibt es bei uns zu Hause nichts Richtiges zu essen. Ich habe gerade bestellt, als du hereinkamst. Darf ich mich setzen?« Er deutete auf den leeren Stuhl neben mir. »Wir müssen ja nicht über den Fall sprechen.«
Ich schob mir einen Löffel Eis in den Mund und ü berlegte. »Vielleicht lenkt mich das Nachdenken übe r den Fall davon ab, über … andere Dinge nachzudenken.«
Gabriel setzte sich hin und sah mir ins Gesicht. »Justin Spellman hat dich ganz schön aus der Bahn geworfen, stimmt’s?«
Ich sah ihn wütend an.
»Entschuldigung. Zurück zu unserem Fall.«
»Gibt es etwas Neues über Billy?«, fragte ich.
»Noch nicht. Sie wollen die Kugel mit der aus dem ersten Opfer vergleichen und prüfen, ob beide aus derselben Waffe stammen. Aber mehr können sie im Moment nicht tun.«
»Was ist mit Joel Martelli und dem gestohlenen Auto?«
»Es gehört einem Mädchen aus Boston, mit dem er das Opfer auch betrogen hat. Sie wollte ihn nicht anzeigen und wir hatten nichts gegen ihn in der Hand. Er ist weg.« Er schüttelte den Kopf. »Das Opfer hat sich wirklich einen tollen Typen ausgesucht, oder?«
»Warum machst du das?«, fragte ich.
»Was denn?«
»Du nennst sie immer ›das Opfer‹. Sie hatte auch einen Namen! Victoria. Ich habe nicht ein Mal gehört, wie du ihren Namen gesagt hast. Warum?«
Er wurde rot und drehte sich weg. Was war hier los? War es ihm peinlich, dass ich ihn auf seine übertrieben polizeiliche Sprache hingewiesen hatte? Oder war er wütend?
»Und du?«, schnauzte er mich an. »Hast du etwas Neues herausgefunden?«
Als er »herausgefunden« sagte, malte er mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft, was mich echt ärgerte.
»Machst du dich über mich lustig?«
»Nein. Fühlst du dich etwa angegriffen? Hast du einen Grund dazu?«
»Nein, habe ich nicht. Ich bin die Einzige, die in diesem Fall irgendwelche Hinweise gefunden hat. Ich habe das Loch in der Decke am Tatort entdeckt. Ich habe Joni dazu gebracht, auszupacken. Ich habe Billys Nachricht auf dem Zettel gefunden.«
Gabriel presste die Lippen zusammen. »Und nichts davon hatte mit deinen angeblichen Kräften zu tun. Du bist klug und hast deinen gesunden Menschenverstand benutzt. Das ist alles.«
Klappernd ließ ich meinen Löffel auf den Tisch fallen. Ich konnte nicht glauben, dass er sich so schäbig verhielt. Nach all dem hielt er mich immer noch für eine Betrügerin. Ich wollte schreien, ich wollte ihn schlagen.
Stattdessen ging ich hinaus.
Für diese Uhrzeit war der Parkplatz relativ leer. Es hatte wieder zu regnen bekommen, allerdings nicht so stark wie am Morgen. Angesichts der schwülen Luft war dieser leichte Nieselregen
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