Ich sehe dich
und Bank und fischte nach Deo, Taschenlampe, Lipgloss und Thermoskanne. Sie wischte den Staub von ihrem Pullover und kniete sich vor den chaotischen Haufen. Stück für Stück nahm sie jedes Teil noch einmal in die Hand, begutachtete es und packte es dann entweder in den Rucksack oder legte es schweren Herzens zur Seite. Alles, was es nicht in den Rucksack schaffte, begleitete sie auch nicht in ihr neues Leben. Sie blickte von dem schwarzen Shirt zu dem grauen, sagte langsam einen alten Kinderreim auf und steckte schließlich das graue in den Rucksack, zögerte, nahm es wieder heraus und tauschte es gegen das schwarze.
»Mann! Ich hab keinen Bock mehr!« Sie erschrak über die Lautstärke ihrer eigenen Stimme, doch der Wall war gebrochen. »Keinen Bock, Bock, Bock! Hallo, da oben, hörst du mich? Ich will nicht wieder alles zurücklassen! Ich will nicht mein Leben lang Verstecken spielen. Ich bin keine Mörderin! Ist es zu viel verlangt, dass ich nicht als Mörderin abgestempelt sein will?«
Sie schrie sich ihren Frust von der Seele, und doch verspürte sie keine Erleichterung. Sie fühlte sich einsam. Betrogen um ihr Leben. Betrogen um die Arbeit, die Mühe, die sie hineingesteckt hatte. Und wozu? Um wieder alles hinter sich zu lassen? Wieder von vorne anzufangen, mit einem Rucksack, dreihundertvierzehn Euro in bar und dem Wissen, dass ihre Chancen, je rehabilitiert zu werden, gleich null waren. Viel zu viel sprach gegen sie. Nicht zuletzt die Tatsache, dass sie die letzten fünf Jahre eine illegale Existenz geführt hat.
Sie widmete sich erneut dem Chaos auf dem Boden, sortierte rasch die restlichen Gegenstände aus und stellte den Rucksack dann auf den Tisch. Er war etwa zu zwei Dritteln voll. Sie nahm den Laptop und die Bücher und verstaute sie. Ob Sara bald kommt? Sie las auf ihrem Handy die Uhrzeit ab. Hoffentlich findet Sara die Hütte gleich. Die Kleingartensiedlung war nicht zu verfehlen, aber selbst sie war anfangs in der Anlage umhergeirrt und hatte sich in den Parzellen verlaufen. Ob ich sie anrufen soll? In einer halben Stunde muss ich los, sonst verpass ich den Zug. Lydia wählte Saras Nummer, doch es meldete sich niemand. Dann öffnete sie die Mitteilung, die sie Sara geschickt hatte. Nicht KulturLaden. Da sind vllt bullen. Bin in schrebergartenanlage am hirschgarten, parz. 45, vom hauptweg 2. seitenweg rechts 4. haus.
Die Beschreibung war eindeutig. Sie musste es leicht finden. Und wenn sie nicht allein kommt? Was, wenn sie die Bullen mitbringt? Wenn Sara auch dachte, dass sie schuldig war? Schließlich ging es um ihre Schwester. Die zu retten, war ihr Ziel. Oder wenn die Bullen inzwischen die Verbindung zwischen dem Frauenhaus und der Schrebergartenlaube herausgefunden hatten? Der König war offensichtlich nicht dumm. Wenn der die letzten gespeicherten Rufnummern in ihrem Festnetztelefon abtelefonierte, war er bereits beim Frauenhaus. Dort wussten sie, dass sie vorgestern in der Laube gewesen war. Wieso hatte sie nicht eher daran gedacht? In Windeseile zog Lydia ihren Anorak an, stülpte die Norwegermütze über und schulterte den Rucksack. Sie überprüfte den Inhalt der Jackentaschen und wandte sich zum Gehen. Sie war keine zwei Meter von der Tür entfernt, als es klopfte.
Sie erstarrte. Sara? Oder hatte Carlo sie gefunden? Wieder hämmerte es gegen das Holz.
Lydia riss sich zusammen. Lautlos versteckte sie sich hinter der Tür. Ihre Hand suchte den Spaten, der dort immer in der Ecke lehnte.
Mit angehaltenem Atem beobachtete sie, wie sich die Klinke senkte und die Tür sich langsam mit einem Quietschen öffnete. Ihr ganzer Körper war angespannt wie der einer Raubkatze, die zum Sprung ansetzte. Sie umklammerte den Griff des Spatens, hob ihn über ihren Kopf.
Die Tür war jetzt zur Hälfte geöffnet. Ein Mann steckte seinen Kopf durch den Spalt. Er trug eine dunkle Mütze.
Er trat ein.
Lydia sah, dass er einen der Holzpflöcke aus dem Garten in der Hand hielt, vor sich ausgestreckt, bereit, ihn als Waffe einzusetzen. Noch ein Schritt. Jetzt war er ganz in der Hütte. Sah sich um.
Sie schlug zu.
Mit entsetztem Blick brach er zusammen, versuchte, sich am Stuhl zu halten, riss ihn um und fiel dann auf den Teppich. Leblos blieb er liegen.
Lydia stand wie angewurzelt auf der Stelle. Den Spaten noch immer in der Luft, starrte sie auf den Unbekannten am Boden. Plötzlich spürte sie das Schlagen ihres Herzens, heftig, schnell, zu schnell. Sie legte den Spaten ab und presste die Hand auf ihre
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