Ich sehe dich
zur Tür bereiteten.
»War er das?«
Maren ignorierte ihre Frage und setzte sich an den Küchentisch. Er war aufgeräumt, Papiere ordentlich auf einem Stapel, der Laptop offen, eine fast leere Tasse Tee daneben. »Ich soll mich wie zu Hause fühlen, hast du gesagt.«
»Das hast du gut gemacht.« Lydia stellte Wasser auf. »Seit wann bist du hier?«
»Seit gestern Abend. Ich habe Sturm geläutet, und dann habe ich mich selbst hineingelassen.«
»Gut gemacht.« Sie kramte in dem Hängeschrank nach der Kiste mit den Tees. »Grün, Ayurvedisch oder Hagebutte?«
»Grün.« Maren kippte ihre Tasse um fünfundvierzig Grad. Die Flüssigkeit, die den Boden bedeckte, hatte eine bräunliche Farbe. Sie trank den letzten Schluck. »Ich hab mir eine halbe Orange hineingepresst. Wegen der Vitamine.«
Lydia nahm eine Orange aus der Obst- und Gemüseschale, halbierte sie und presste je eine Hälfte in die leeren Tassen.
»Ich bring dich ins Frauenhaus. Da bist du sicher.«
»Hier doch auch, oder nicht?« Maren schaute sie ängstlich an. Jetzt nahm Lydia die Verfärbung an ihrer linken Wange wahr.
»Er hat dich geschlagen.«
Maren senkte den Kopf.
»Auch in den Bauch?«
Schweigen.
Lydia seufzte. »Mensch, Mädchen. Warum willst du ihn schützen?«
Sie zog die Schultern hoch. Wie ein Igel, der sich einrollt, dachte Lydia. Nur hat sie keine Stacheln, die sie aufstellen kann, um sich zu wehren. Sie umfasste Marens Schultern. »He, es wird alles gut. Wir schaffen das. Okay?«
Sie drückte ihr einen Kuss auf das rote Haar. »Als Erstes gehen wir zum Arzt.«
»Mir geht’s gut.«
»Du weißt, was der Arzt gesagt hat. Wenn die Milz reißt, ist die Hölle los. So schnell kann ich kein Vaterunser beten, wie du –«
»Mir geht’s gut«, murmelte Maren, »ich würd’ schon spüren, wenn da was kaputt wäre.«
»Nein, Schätzchen, das würdest du erst, wenn es zu spät wäre. Du humpelst. Das kommt nicht vom Bein.« Lydia drehte sich zur Arbeitsfläche, um den Tee aufzugießen. Mit den dampfenden Getränken setzte sie sich zu Maren. »Wir gehen zum Arzt. Keine Diskussion.«
»Ich mag die neugierigen Fragen nicht.«
»Das müssen Ärzte bei bestimmten Verletzungen. Und das ist auch gut so.« Von der heißen Tasse strömte Wärme in ihre Hände und von dort durch ihren Körper. Plötzlich bemerkte Lydia, wie sehr die letzten vierundzwanzig Stunden sie mitgenommen hatten. Ihre kleine Schutzwelt war zusammengebrochen, implodiert wie ein professionell gesprengter Wolkenkratzer, der unter einer riesigen Staubwolke in sich zusammenfiel. Und jetzt kam die Kälte. Verdrängte die Wärme des Tees. Die Kälte, die sie von innen nach außen gefrieren ließ.
»Dann wollen die, dass ich ihn anzeige«, sagte Maren.
»Das solltest du auch.«
»Du weißt, dass ich das nicht kann.«
»Nicht willst.«
»Nicht kann«, beharrte Maren. »Sonst ist alles vorbei.«
»Es ist alles vorbei. Eure Beziehung war vorbei, als er das erste Mal die Hand gegen dich erhoben hat.«
»Das ist nicht wahr. Er … er beruhigt sich wieder. Immer. Er liebt mich doch.«
»Nein, Maren. Wer schlägt, liebt nicht. Sieh es ein! Solange du noch lebst!« Lydia erschrak über die Schärfe in ihrem Tonfall. Weicher fügte sie hinzu: »Weißt du, dass in den letzten zwölf Monaten in Deutschland vierzigtausend Frauen in Frauenhäuser geflüchtet sind? Allein in Nordrhein-Westfalen sind sechsundvierzig Frauen von ihrem Partner getötet worden. In Berlin wurden dieses Jahr vierzehntausendneunhundert Fälle häuslicher Gewalt angezeigt. Weißt du was? Die Hälfte der Anzeigen wird widerrufen. Die Hälfte! Und es sind immer die Gleichen, die in der Ambulanz landen. Und irgendwann in der Leichenhalle. Aber davor behaupten fast alle, dass er sie liebt. Du bist nicht allein! Aber nur du allein kannst die Entscheidung treffen, es zu beenden.«
Lydia nahm die rechte Hand von der dampfenden Tasse und legte sie auf Marens Arm. Sachte rüttelte sie daran. »Es ist dein Leben. Maren! Dein einziges!«
Tränen liefen über Marens Gesicht.
» Er ist mein Leben«, flüsterte sie. »Ich hab keine Ausbildung, keinen Job, keine Familie, keine Freunde.«
»Und das wird auch so bleiben, solange du mit ihm zusammen bist. Er steht zwischen dir und dem richtigen Leben.« Lydia streichelte ihren Unterarm. »Alles, was dich stark macht, schwächt ihn.«
»Ich bin nichts.« Maren schluchzte leise in ihre Tasse hinein.
»He, du bist Maren! Ein Engel, der sich für andere einsetzt. Der
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