Ich sehe dich
Menschen so nimmt, wie sie sind. Du hast ein Herz aus Gold.«
»Aber danach fragt keiner! Bei allen Jobgesprächen wollen die nur meinen Schulabschluss sehen. Sorry. Fehlanzeige.«
»Du bist neunzehn! Das kannst du nachholen. Mensch, es gibt Förderprogramme, speziell für Mädchen wie dich. Ich kann dir helfen. Wenn du dir helfen lässt. Dann kannst du das alles haben – Ausbildung, Freunde, Job.« Sie zwinkerte ihr zu. »He, eineFreundin hast du schon, oder glaubst du, ich gebe Hinz und Kunz meinen Schlüssel?«
Maren hob den Kopf und blickte sie dankbar an. Geräuschvoll zog sie ihre Nase hoch und wischte ihre Tränen am Ärmel ab. »Meinst du wirklich, ich schaff das?«
Lydia lächelte sie an. »Aber klar!«
»Und du bist meine Freundin?«
»Auf immer und ewig …« Sie griff nach ihrer Tasse. »Auf die Freundschaft! Auf die Zukunft!«
Maren schniefte und ließ ihre Tasse gegen Lydias klirren. Der Anflug eines Lächelns stahl sich auf ihr tränenfeuchtes Gesicht und war gleich wieder weg. »Ach ja, noch was. Hätte ich fast vergessen.«
»Was denn?«
»Gestern Abend kam ein Freund von dir vorbei.«
Lydia erstarrte. Sie hatte keinen Freund. Außer Maren und Christina wusste niemand, wo sie wohnte.
»Er war sehr enttäuscht, dass du nicht da warst … Aber er hat etwas für dich abgegeben.«
Maren stand auf und humpelte in den Wohnraum. Zurück kam sie mit einem brauen DIN-A4-Umschlag, den sie vor Lydia auf den Küchentisch legte. Er war nicht beschriftet. Lydia starrte ihn nur an. Regungslos.
»Willst du gar nicht wissen, was drin ist?«
Mit zitternden Händen nahm Lydia den Umschlag und drehte ihn von links nach rechts, von oben nach unten, schüttelte ihn, hielt ihn gegen das viel zu schwache Licht der Deckenlampe und roch schließlich daran.
»Jetzt mach halt auf!«
Umständlich öffnete sie den Umschlag und zog den Inhalt heraus. Ein Foto. Ein Paar. Er etwa einen Kopf größer als sie, in einem dunklen Anzug, mit kurzen blonden Haaren, blauen Augen, gepflegtem Schnauzbart und einem unsicheren Lächeln. Sie in einem hellen Sommerkleid mit aufgestickten Blumen, schwarzhaarig, mit vollen roten Lippen, dunklen, strahlenden Augen und einem Blumenstrauß mit hellroten Rosen. Im unteren Drittel des Bildes hatte jemand mit rotem Marker über die Körper gekritzelt.
»In guten und in bösen Tagen,
die Treue vor Gott geschworen,
bis der TOD uns scheidet.«
Lydia ließ das Foto sinken. Ihr war schlecht. Er war hier gewesen. In ihrer Wohnung.
»Du bist verheiratet? Wie hübsch du bist!« Maren betrachtete das Foto neugierig. Dann begann sie zu verstehen. Und erschrak. »Er hat dich geschlagen. Du … du hast ihn verlassen.«
Lydia zerriss das Foto. Packte den Umschlag und warf ihn fort. Etwas fiel heraus. Maren hob es auf und legte es auf den Tisch: ein goldener Ring.
»Da ist was eingraviert . Lydia, 12.02. «
Sie sah hoch und suchte ihren Blick. »Du heißt Lydia?«
Der Raum drehte sich. Immer schneller. Und schneller.
Meine Hände zittern.
Er kommt in die Küche. Seine Augen ein Abgrund.
Wo ist sein Messer?
Noch zwei Schritte.
Ich reiße den Topf vom Herd.
Das siedende Fett auf seinem Hemd.
Der Blick. Das Entsetzen. Der Schrei.
Er bricht zusammen. Sinkt auf die Knie. Brüllt.
Reißt sich das Hemd vom Leib.
Die Haut. Blutrote Blasen.
»Du siehst voll scheiße aus«, sagte Maren, »was ist los? Ist dir schlecht?«
Lydia sprang auf und stürzte an ihr vorbei zur Toilette. Sie übergab sich. Zuerst der Kaffee, dann die Galle, schließlich nur noch Spucke, doch das Würgen wollte nicht aufhören.
Endlich hatte sich ihr Magen beruhigt, und sie saß erschöpft auf dem Boden des winzigen Badezimmers. Die weißen Kacheln verschoben sich vor ihren Augen und bildeten mit den dunklen Fugen ein abstraktes Muster, das immer in Bewegung war. Sie kniff die Augen zusammen und fokussierte das Waschbecken. Die Kacheln gaben ihren kunstvollen Tanz auf und blieben still an einem Ort. Sie hörte, wie Maren in der Küche Wasser kochte und mit Tassen hantierte. Kurz darauf kam sie ins Badezimmer und kniete sich neben Lydia. Sie stellte eine Tasse mit dampfendem Tee vor ihr ab und reichte ihr einen kalten Waschlappen.
»Hier, nimm, das tut dir gut«, sagte sie und strich Lydia das Haar aus der Stirn.
»Danke.« Lydia fuhr sich mit dem Lappen über das Gesicht und spülte den Mund mit Wasser aus. »Geht schon wieder.«
»War es so schlimm?«
Sie zog wortlos den Ärmel ihres Sweatshirts nach oben und
Weitere Kostenlose Bücher