Ich sehe dich
junges Paar lachend auf die Straße trat.
Seine Augen fixierten wieder das Fenster im ersten Stock. Er sah einen Schatten, schließlich tauchte ein Gesicht am Fenster auf.
Lydia!
Er musste seinen Plan ändern, früher zuschlagen. Und bis dahin würde er sie nicht mehr aus den Augen lassen.
36
Sara hasste Krankenhäuser. Allein der Gedanke an den Geruch – Putzmittel und verkochtes Kantinenessen – reichte, um bei ihr Brechreiz hervorzurufen. Sie warf das lange Ende des Schals um ihren Hals und zog die Wolle über die Nase, bevor sie eintrat. Auf der Treppe nahm sie je zwei Stufen auf einmal. Plötzlich hörte sie Geschrei. Dann Türenschlagen. Erschrocken rannte sie die letzten Stufen nach oben und sah eine Frau den Gang entlangstürmen. Ganz in Schwarz gekleidet, lange blonde Haare, das Gesicht eines Engels, fluchte sie lautstark, während sie auf den Liftknopf einschlug. Saras Herzschlag setzte aus. Sie erkannte sie sofort. Die markante Narbe war unverwechselbar. Das Foto auf dem Klavier, die Schöne in Michaels Arm. Was machte sie hier? Die Fahrstuhltür schloss sich mit einem leisen Klingeln. Sara ließ ihren Blick über den Flur wandern. Wen Michaels Schöne wohl besucht hatte?
In Gedanken klopfte sie an Zimmer 208.
»Hau ab!«
Sie wich zurück . Hau ab? Sie musste sich verhört haben. Entschlossen drückte Sara die Klinke hinunter, öffnete die Tür und betrat das Zimmer. Ein kurzer Gang führte zu einem Bett, von dem sie nur das Fußende sehen konnte.
»Hau ab, hab ich gesagt! Nichts kriegst du von mir!«
Sara schloss die Tür. Dann nahm sie den Schal herunter und ging zum Bett. In Anjas Gesicht leuchteten unregelmäßige rote Flecken, die sich von den Nasenflügeln fächerförmig über die Wangen ausbreiteten. Sie reckte den Kopf so hoch aus dem Kissen, dass die Halsmuskeln links und rechts hervortraten.
»Hallo Anja.« Sie hielt ihr einen Blumenstrauß hin. »Ich bin Sara aus der letzten Gruppensitzung, erinnerst du dich?«
Anjas Kopf sank in das breite Kissen zurück, ihre Muskeln entspannten sich. Sie nickte fast unmerklich.
»Geht’s dir wieder besser? Ich hab gehört, du bist knapp an einem Blinddarmdurchbruch vorbeigeschlittert.« Sara legte die Blumen auf den Nachttisch, neben Wasserkrug und Glas. »Soll ich eine Vase holen?«
»Hast du diese Schlampe gesehen?« Auf Anjas bleichem Gesicht leuchteten die roten Flecken. »Diese Schlampe!«
»Die Blonde mit dem schwarzen Hosenanzug?«
Anja nickte. Ihre Augen spiegelten die Wut, die in ihrer Stimme vibrierte, wieder. »Dass die sich traut!«
»Wer ist das?«
»Sylvia Renner.« Jede Silbe zog die Mundwinkel tiefer und entstellte Anjas sonst so hübschen Mund.
»Aha.«
»Heiners Geliebte. Mir meinen Mann ausgespannt hat die. Die blöde Schnepfe.« Anja klingelte nach der Schwester.
Sylvia Renner musste die offene Rechnung sein, von der der Kommissar gesprochen hatte! Grossmann hatte Michael die Freundin ausgespannt!
»Was wollte sie denn?«
»Geld!« Die roten Flecken auf Anjas Wangen wurden dunkler. »Von Heiners Konto! Aber nie kriegt die das. Vor dem Gesetz bin ich Heiners Frau.«
»Kennst du Michael Seitz?«
Anja blickte sie überrascht an.
»Natürlich kenne ich Michael. Heiners Kollege. Exkollege. Er hat gekündigt, nachdem er den Heiner mit dieser Schnepfe erwischt hat.« Unvermittelt löste sie ihre Fäuste und strich über die glatte Bettdecke. »Michael ist in Ordnung. Warum?«
»Er ist der Anwalt meiner Schwester. Christina. Du weißt schon, aus der Gruppe.« Sara beobachtete die Veränderung in Anjas Zügen. Erst Verständislosigkeit, dann langsames Begreifen.
»Dann warst du wegen Christina in der Gruppenstunde. Jetzt verstehe ich …«
»Ich wollte meiner Schwester helfen.« Sara zog den Mantel aus und legte ihn über den Arm. »Tini hat das nicht getan. Genauso wenig wie du. Sie hat nur kein Alibi. Und jetzt beschuldigen die Michael, deinen Mann getötet zu haben.«
»Blödsinn! Warum sollte Michael das tun? Vor zehn Monaten vielleicht. Aber doch nicht heute. Darüber ist er hinweg.«
»Glaubst du?« Sara dachte an das Foto auf Michaels Klavier. »Wie lange waren sie denn zusammen?«
»Fast zehn Jahre.« Anja zog die Stirn in Falten und legte einen Finger an ihre Oberlippe. »Vielleicht sogar länger. Ich bin mir sicher, sie wollten heiraten.«
Zehn Jahre! Ronnie und sie kannten sich nicht mal so lange … »Und dann war von heute auf morgen Schluss?«
»Nein.« Ein bitteres Lachen folgte.
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