Ich sehe dich
zeigte Maren ihre kleinen runden Brandnarben. »Schlimmer.«
»Du hast ihn verlassen?«
»Ja.«
»Was will er von dir?«
»Mich. Er ist ein Psychopath. Ich war … gefangen. Es war ein Albtraum. Die Zigaretten … Das war seine Lieblingsstrafe. Ich hab mir Rachefantasien ausgedacht. Jeden Tag hab ich mich daran festgehalten. Jeden Tag. Und dann hab ich eine davon wahrgemacht.« Lydia fuchtelte mit den Armen, als wolle sie eine Wespe verscheuchen.
Maren starrte sie an. »Du hast deine Fantasie in die Tat umgesetzt?«
»Ja.«
»Du hast gesagt, wir sollen nur schauen, nicht springen.«
Etwas in Marens Stimme ließ Lydia aufhorchen. Sie nahm sich zusammen. »Glaub mir, wenn du springen musst, um dein Leben zu retten, ist es gut, wenn du weißt, wie man springt.«
»Selbst wenn du einen Menschen umbringst?«
Lydia vernahm den feinen Unterton, eine Nuance nur, aber genug, um die Richtigkeit ihres Tuns infrage zu stellen. »Ich habe ihn nicht umgebracht. Aber ich hätteihn getötet. Wenn es nötig gewesen wäre, um mich zu retten. Er hätte es verdient.«
Maren schloss den Toilettendeckel und setzte sich darauf. »Du hast gesagt, es ist nicht unsere Entscheidung, ob jemand leben darf.«
»Dazu stehe ich auch.« Lydia vergrub ihr Gesicht im Waschlappen. Er war warm und weich, roch nach Waschpulver und Trockner, wie bei ihrer Großmutter. »Lass dich nit unterkriegen, Dern«, hatte die Großmutter immer gesagt und ihr einen warmen Strudel hingestellt, damit sie kräftig würde und sich wehren könne. Sie warf den Lappen ins Waschbecken und schaute Maren in die Augen.»Aber es ist deine Entscheidung zu sagen, dass du ein Recht zu leben hast. Und wenn es dir jemand nehmen will, ist es deinRecht, es zu verteidigen.«
»Du hast gesagt, dann sollen wir unseren Partner verlassen.«
»Stimmt. Aber wenn er dich einsperrt und in seiner Abwesenheit ankettet wie einen Hofhund, damit du zwar kochen, aber nicht zum Fenster kannst, geht das nicht.«
»Du hättest die Polizei holen können.«
»Ohne Telefon?«
Maren schauderte. Ihr Entsetzen über Lydias Schicksal, ihr Mitgefühl, ihr Drang zu helfen, all das spiegelte sich in dem zarten Gesicht.
»Aber jetzt! Jetzt kannst du. Du musst zur Polizei!«, rief sie aufgeregt.
»Ich kann nicht.«
»Du willst nicht. Du hast selbst gesagt, man muss nur wollen.«
»Nein, ich kann nicht. Ich … Es ist wegen … Ich kann nicht zur Polizei.« Lydia stieß die letzten Worte mit solcher Heftigkeit hervor, dass Maren sich erschrocken auf dem Toilettendeckel aufrichtete.
»Valeska! Hast du Ärger mit den Bullen?«
Lydia sagte nichts.
»So schlimm?«
»Schlimmer.«
»Was willst du dann tun?« Wieder dieser Anflug von Panik in Marens Stimme, der Lydias feine Antennen in Alarmbereitschaft versetzte. Sie stand auf. Ihre Knie knacksten, ihre Pobacken fühlten sich kalt und platt gedrückt an.
»Ich werde wieder untertauchen. Erst mal ins Frauenhaus. Dann ein neuer Name, neue Haarfarbe, vielleicht blond zur Abwechslung? Alternativ könnte ich hierbleiben und mich von ihm töten lassen. Was meinst du? Was würdest du mir raten?«
»Geh ins Frauenhaus.«
»Gute Wahl.«
»Nimmst du mich mit?«
Lydia streckte Maren ihre Hand hin. »Nichts lieber als das.«
35
Er wartete, bis die Rücklichter des Kleinwagens um die Ecke verschwanden, dann huschte er aus seinem Versteck hervor, überquerte die Straße und begab sich wieder auf seinen alten Platz in der Einfahrt gegenüber von Lydias Wohnung. Fast eine halbe Stunde hatte er verloren, weil dieser Affe die Polizei holen wollte, wenn er nicht verschwände.
Er legte die rechte Hand über die linke und drückte gegen die Gelenke. Die kleine Rothaarige von gestern Abend musste noch da sein. Und solange sie da war, bestand Hoffnung, dass Lydia auch auftauchen würde.
Er musste nur Geduld haben. Nicht von seinem Ziel ablassen. Seine Wut nähren wie ein Feuer, dessen Flamme ewig lodern würde.
Nichts einfacher als das, Mutter, ich muss nur an dich denken und es brennt lichterloh. Wäre ich ein Hund gewesen, vielleicht hätte der Tierschutzverein mich gerettet – aber ich war nur ein Kind. Es war nicht meine Schuld, was dir passiert ist, du hättest mich abtreiben können, oder weggeben, du hattest eine Wahl. Ich nicht. Ich war dir ausgeliefert.
Er verstärkte den Druck der rechten Hand, bis er endlich das Knacken der Gelenke hörte. Die Haustür gegenüber öffnete sich. Er zog seine Mütze tiefer ins Gesicht und beobachtete, wie ein
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