Ich sehe dich
niemanden sehen, nicht erzählen müssen, was passiert war. Sie musste in Ruhe darüber nachdenken, was sie als Nächstes tun sollte. Wieder ihre Identität ändern? Wegziehen aus München, ans andere Ende von Deutschland? Ins Ausland? Auf jeden Fall in der Masse einer Großstadt untertauchen. Zumindest würde sie diesmal nicht dieselben Fehler machen, wenn sie sich neue Papiere besorgte. Sie hatte inzwischen oft genug welche für andere Frauen besorgt. Es würde ihr gesamtes Erspartes aufbrauchen, wenn es überhaupt reichte. Aber sie würde darauf achten, dass sie damit eine legale Existenz aufbauen konnte, eine mit Krankenversicherung und Sozialversicherungsnummer, mit der sie einen offiziellen Job wie den in Berlin annehmen konnte und nicht auf Schwarzarbeit angewiesen war, mit der sie sich zu Dumpinglöhnen ihren Lebensunterhalt verdienen musste.
Lydia legte drei Euro auf die Theke, zog die Kapuze über ihren Kopf, nahm ihren Rucksack und verließ die Bar. Vor ihrem Haus blieb sie stehen und blickte angestrengt zu ihrem Fenster hoch.
War da ein Schatten?
Unsinn, du siehst Gespenster. Sie gab sich einen Ruck. Er arbeitet um diese Zeit im Lager. Du bist sicher. Geh rein, hol deine Sachen und verschwinde.
Sie überquerte im Laufschritt die Straße und stieß die schwere, hölzerne Haustür auf. Angelehnt, wie immer. Damit die Lieferanten zur Küche konnten, ohne läuten zu müssen. Jeder konnte ein und aus gehen. Jeder. Auch er .
Lydia zögerte kurz, trat dann in das Halbdunkel des Altbauflurs ein, der selbst am Tag finster war. Die wohlbekannten Küchendüfte schlugen ihr bereits auf Höhe der Briefkästen entgegen, dabei war es erst kurz nach elf. Sie lief die Treppe hoch, wartete wie immer an der letzten Stufe, um das Licht neu anzuschalten, und schlich auf Zehenspitzen den fensterlosen Gang entlang. Vor ihrer Tür verharrte sie, lauschte auf Geräusche aus ihrer Wohnung. Sie legte ihr Ohr an das Holz, aber sie konnte nur das Hämmern ihres eigenen Herzens hören.
Reiß dich zusammen. Es ist Montag, elf Uhr morgens. Er arbeitet.
Automatisch fuhr sie mit ihrem Finger an der Kante zwischen Tür und Türrahmen entlang.
Der Seidenfaden.
Er war weg.
Ihr Herz setzte aus. Nur eine Sekunde. Lange genug, um das Brausen in ihrem Kopf wie eine haushohe Welle über ihr zusammenschlagen zu lassen. Sie spürte, wie ihre Kehle sich zuzog, nach Luft lechzte.
Nicht jetzt!
Tüte!
Schnell!
Sie riss eine Papiertüte aus ihrer Manteltasche und hielt sie sich vor Mund und Nase.
Atme!
Ganz ruhig.
Ruhig atmen.
Ein.
Aus.
Ein.
Aus.
Langsam regulierte sich ihre Atmung. Das Brausen in ihrem Kopf beruhigte sich.
Denk nach.
Du bist gestern überstürzt aus der Wohnung gerannt.
Hast du den Seidenfaden eingeklemmt?
Ich glaub schon.
Denk nach! Bist du sicher? Du warst in Panik.
Ich kann mich nicht erinnern.
Denk nach.
Ich weiß es nicht mehr!
Das Licht erlosch. Der Flur lag in völliger Dunkelheit. Sie tastete nach dem Lichtschalter.
Jemand riss die Tür auf.
»Da bist du ja endlich …«
33
Wie benommen saß Sara vor ihrem Computer. Irgendwie war sie nach Hause gekommen, hatte Stiefel und Mantel ausgezogen und sich sofort in ihr Arbeitszimmer verkrochen. Mechanisch faltete sie ein grünes Papier, während sie auf den Bildschirm starrte. Drei Nachrichten erschienen in ihrem Postfach. Sie las eine nach der anderen, ohne den Inhalt wahrzunehmen.
Michael war der Geldgeber.
Er war verdächtig.
Tini hatte ein Verhältnis mit ihm.
Sie erinnerte sich, wie sie Tini in ihr Vertrauen gezogen, ihr alles erzählt hatte. Ihre lächerlichen Auseinandersetzungen mit Ronnie. Wie nichtig mussten sie Tini vorgekommen sein. Was für eine Farce. Sara zerknüllte den halbfertigen Papiervogel und presste ihn mit der flachen Hand auf die Tastatur. Wie blöd war sie eigentlich?
Sie sprang auf, zog ihre Sportsachen an und verließ mit einem Türknallen die Wohnung. Sie lief zum Kanal, am Wasser entlang zum Schloss und durch den verschneiten Park. Langsam spürte sie, wie ihr Zorn verflog. Dann hatte Michael ihrer Schwester eben das Geld angeboten. Na und? Das machte ihn nicht gleich zum Täter, im Gegenteil, die Geste sprach für ihn. Ein verlässlicher Freund. Gut, vielleicht hatte ihre Schwester sogar ein Verhältnis mit ihm gehabt. Warum nicht? Wenn sie ihr das nicht erzählen wollte, dann war das ihr gutes Recht.
Aber hatte er Sara nicht angelogen? Sie hatte ihn explizit gefragt. Und zweimal direkt auf die Geschichte mit dem
Weitere Kostenlose Bücher