Ich sehe dich
Anschuldigungen, die zwar nicht erwiesen waren, aber dennoch einen Zweifel mitsamt seinem schalen Nachgeschmack hinterließen. Sie dachte an das Foto von ihm und seiner Freundin, dieser Sylvia, und an Anjas Aussage, dass er über die Geschichte hinweg sei. Stellte man sich dann wirklich so ein Foto aufs Klavier? Das Kribbeln kehrte in ihren Magen zurück. Könnte diese Sylvia in die Sache verwickelt sein? Was, wenn Sylvia zu Michael zurückwollte, und Tini ihr im Weg stand? Wäre die Mordserie nicht eine geniale Methode, die Nebenbuhlerin auszuschalten? Niemand würde auf sie kommen. Wie auch, wer denkt schon um so viele Ecken? Aber was wäre dann mit Heiner? Warum hätte sie ihn umbringen sollen? War er dahintergekommen? Und sie musste deswegen schnell handeln? Und woher kannte sie die Folterkammer und … Was für ein ausgemachter Blödsinn, Frau Neuberg! Diese Story würde dir nicht einmal die Bildzeitung abkaufen.
Blödsinn, der niemandem half. Sie setzte sich auf und rollte den Kugelschreiber zwischen ihren Händen hin und her.
Ihre Mutter sah sie an. »Du verdächtigst wirklich Tinis Anwalt?«
»Nein!« Die Antwort kam schnell und bestimmt.
»Warum ist er dann auf der Liste?«
»Weil … weil er kein Alibi hat. Ich sammle Fakten, Mama. Objektiv.«
»Aha.« Ihre Mutter sah sie mit ihrem nachsichtigen Blick an. »Müsste dann Tini nicht auch auf der Liste stehen?«
»Natürlich. Objektiv . Aber sie war es nicht. Das wissen wir.« Was machte er dann auf der Liste? Wenn Tini unschuldig war, entfiel sein Motiv als Mittäter. Sara strich seinen Namen durch. Erst mit einer dünnen Linie, dann kritzelte sie so lange über den Namen, bis er nicht mehr zu erkennen war.
»Das mit dem Alibi, weißt du?«
»Er war zu Hause, allein.« Sie schlug das Notizbuch zu.
»In einem Mehrfamilienhaus?«
»Oh Mann, Mama!« Sara schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Du bist super!«
Sie sprang von ihrem Stuhl auf, lief in den Flur und kam mit Stiefel, Mantel und Mütze bekleidet wieder zurück. »Ich muss kurz weg, kannst du den Jungs ein paar Brötchen schmieren?«
»Und wenn Ronnie heimkommt?«
»Dann lässt du dir eine Ausrede einfallen.«
»Wo gehst du denn hin?«
Sara küsste ihre Mutter auf die Wange. »Das sage ich dir nicht, dann musst du nicht lügen.«
Beim dritten Versuch schaffte sie es endlich, den Audi in die enge Parklücke zu manövrieren. Sie lief die Schwanthalerstraße entlang, an dem türkischen Supermarkt und mehreren Kneipen vorbei, bis zur Hausnummer 119a. Wie schon am Morgen war die Haustür nur angelehnt. Sie trat ein und stieg die knarzenden Stufen hoch.
Vor Michaels Wohnung überlegte sie kurz, dann klopfte sie mehrmals, bevor sie zur Wohnungstür gegenüber ging und dort läutete. Es dauerte nicht lange, bis die Tür geöffnet wurde. Eine dunkelblonde, etwas dickliche Frau um die fünfzig in Stoffhose und einer Bluse mit orangenen Blumenranken stand in der halb geöffneten Tür und blickte Sara misstrauisch an.
»Grüß Gott, ich bin Sara Neuberg, eine Freundin von Michael Seitz.«
Der Blick der Frau wurde etwas freundlicher.
»Tut mir leid, wenn ich mit der Tür ins Haus falle, aber Michael verteidigt meine Schwester in einem Mordprozess und wird jetzt selbst verdächtigt. Das lässt mir keine Ruhe. Wissen Sie, er ist nämlich nicht nur unser Anwalt, er ist auch ein Freund der Familie, und wir können uns nicht vorstellen, dass er etwas damit zu tun hat. Und wenn er jetzt in Untersuchungshaft muss, wer verteidigt dann meine Schwester?« Sara stockte kurz und beobachtete das Gesicht der Frau. Das Misstrauen war besorgtem Verständnis gewichen. »Michael behauptet, dass er zu den Tatzeiten zu Hause war – allerdings allein. Ich glaube ihm, aber es wäre gut, wenn ich eine Bestätigung der Aussage hätte. Wenn ich Ihnen die Zeiten sage, könnten Sie mir dann sagen, ob Sie ihn zu dem Zeitpunkt in seiner Wohnung gehört haben?«
»Das Gleiche bin ich heute schon von der Polizei gefragt worden. Reicht das nicht?«
»Das wusste ich nicht.« Sara lächelte die Frau entschuldigend an. »Ich habe mir einfach Sorgen gemacht und wollte …«
»Keine Angst, ich habe beide Alibis bestätigen können. Wissen Sie, die Wohnungen hier sind nämlich nicht nur recht hellhörig, ich sehe auch, wenn Michael die Wendeltreppe in seiner Wohnung hoch- und runtergeht. Das wirft immer einen Schatten. Am Freitag war ich zu Hause und habe mein Rätsel gemacht, und ich weiß noch, dass ich zu meinem
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