Ich sehe dich
Toni gesagt habe, dass der Michael andauernd hoch- und runterläuft. Hoch und runter. Bis er dann gegangen ist.«
Sara nickte. Heute früh hatte sie durch Michaels Terrassentüren gesehen, wie das Licht in der Nachbarwohnung erloschen war. Sie hatte sich nichts dabei gedacht.
Wie gut, dass diese Frau so aufmerksam war.
Ein junges Kätzchen umschmeichelte die Füße der Nachbarin. Sie hob das Kätzchen vor ihr Gesicht und küsste es auf die Nasenspitze. Sofort streckte das Tier die Krallen aus und schlug mit seiner Tatze nach ihr. »Na na, du Raubkatze! Das hat sie letzte Woche beim Michael auch gemacht. Einen Riesenkratzer im Gesicht hat der gehabt.«
Das Bild von Michael neben ihr im Auto kam Sara in den Sinn. Als er sie nach ihrem vergeblichen Besuch bei Tini nach Hause gebracht hatte. Wie sie sich über sein unrasiertes Gesicht gewundert und überlegt hatte, ob er mit den Bartstoppeln die frische Kratzwunde auf der Wange verstecken wollte.
»Und am Sonntag, am zweiten Advent?«
Die Nachbarin zögerte, dann gab sie sich einen Ruck. »Da war er auch da. Das weiß ich noch ganz genau, wegen dem Klavierspieler im Tatort. Da habe ich am Anfang nicht gewusst, spielt der jetzt oder der Michael … Kennen Sie das, wenn einer komponiert? Spielt fünf Minuten, dann Pause, dann drei Töne, dann Pause und so weiter, und immer das Gleiche. Das ging den ganzen Abend …«
Dienstag, 16. Dezember
38
Die Einparkhilfe piepste immer hektischer, dann lang anhaltend und durchdringend. Sara legte den Rückwärtsgang ein und stieß mit dem Auto ein letztes Mal zurück. Das musste reichen. Auch wenn sie viel zu weit weg vom Gehweg stand. Sie stieg aus, rannte zum Parkscheinautomaten, zog ein Ticket und legte es ins Auto. Im Laufschritt zeigte sie mit dem Schlüssel über die Schulter und verriegelte den Audi. Zwei Minuten nach drei. Und sie war mindestens zweihundert Meter von der Praxis entfernt. Hoffentlich wartete Ronnie. Er sah ohnehin keinen Sinn in diesem Termin bei Dr. Rosen und hatte nur zugestimmt, um sie nach ihrem Streit am Sonntag aus ihrem Arbeitszimmer zu locken. Und sie? Sah sie einen Sinn darin? Glaubte sie wirklich, dass diese Psychologin ihre Eheprobleme lösen konnte? Wollte sie überhaupt ihre Ehe wieder ins Lot bringen? Als sie den Termin vereinbart hatte, war sie vor allem neugierig auf Dr. Rosen gewesen, doch jetzt begriff sie, dass sie wirklich Probleme hatten. Obwohl Ronnie wochenlang wunderbar sein konnte, gab es immer wieder Phasen, in denen sie ihm nichts recht machen konnte, er sie am laufenden Band bloßstellte oder verbal angriff. Phasen, in denen sie sich von ihm zurückzog. Zwischen Ronnie und ihr klaffte inzwischen ein Abgrund, der kaum mehr zu überbrücken war, und der zuließ, dass sie sich von Michael angezogen fühlte, von ihm träumte, Ronnie mit ihm verglich, sich wünschte, Ronnie wäre mehr wie er. Sie beschleunigte ihren Laufschritt, rannte schließlich so schnell sie konnte. Die Haare flogen ihr wild ums Gesicht, ihre Handtasche hielt sie an die rechte Seite gepresst, der Schal flatterte in der linken Hand. Schon von weitem sah sie Ronnie. Er stand steif vor dem Eingang und schüttelte den Kopf, als sie auf ihn zukam.
»Hallo«, keuchte sie atemlos und küsste ihn auf die Wange.
Er strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Du bist verschwitzt.«
»Entschuldige!« Sie rang nach Atem, beugte sich nach vorn und stützte sich mit den Händen auf ihren Oberschenkeln ab. »Da war nirgendwo ein Parkplatz!«
»Wir sind in Schwabing. Was hast du erwartet? Komm, lass uns reingehen.« Er drückte zweimal nacheinander den Klingelknopf von Dr. Rosens Praxis, wartete auf den Summton und stieß mit beiden Händen die Tür auf. Als Sara an ihm vorbei ins Foyer huschte, schnupperte er an ihren Haaren.
»Rauchst du wieder?« Seine Stimme klang so beiläufig, als bitte er sie um den Salzstreuer.
»Ich? Wie kommst du denn darauf ?«
Er verlangsamte seinen Schritt. »Durch die Kippen auf dem Fenstersims deines Arbeitszimmers. Zum Beispiel.«
»Oh.« Sie biss sich auf die Unterlippe und spürte, wie sie errötete. »Das war ein Ausrutscher.«
»Bei Suchtpatienten gibt es keine Ausrutscher. Nur Rückfälle.« Er blieb auf dem zweiten Treppenabsatz stehen. »Woher hattest du die Zigaretten überhaupt?«
»Gekauft, letzten Montag, als ich von Mama heimgefahren bin.«
»Also hast du wieder angefangen. Mensch! Sara! Kannst du dich nicht einmal an eine Abmachung halten?« Die Enttäuschung
Weitere Kostenlose Bücher