Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Ich sehe dich

Titel: Ich sehe dich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Clark
Vom Netzwerk:
verheimlichen können? Und wieso hatte sie es nicht selbst bemerkt? Zitternde Hände, eine Fahne zur falschen Tageszeit, eine lallende Aussprache, ein aufgedunsenes Gesicht, hätte es nicht genug Warnzeichen geben müssen? Wann hatte sie Paul eigentlich das letzte Mal gesehen? Tini war in letzter Zeit immer allein gekommen, weil Paul so viel arbeiten musste. Sie schien das nie gestört zu haben. Hätte ihr das nicht auffallen müssen? Sie erhob sich und ging zum Fenster. Die klare Winternacht war vom Mond hell erleuchtet. Der erste Schnee des Jahres bedeckte den Rasen.
    Paul hatte heimlich getrunken. Wie hießen die? Deltatrinker. Hatte sie nicht vor kurzem etwas darüber gelesen? Sara lehnte ihre Stirn an das kühle Fenster. Konstanter Alkoholspiegel, zumeist versteckter Konsum, seltener Rauschzustand, unauffälliges Verhalten. Ob man mit Kaugummi eine Fahne vertuschen konnte? Sie musste unbedingt mit Tini reden. Wo steckte sie bloß? So ein Verhör konnte doch nicht so lange dauern!
    »Ich muss morgen auf die Polizei, eine Aussage machen. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.« Die Stimme der Mutter riss Sara aus ihren Gedanken. Sie hob ihren Kopf und drehte sich zu ihr um.
    »Na, dass Tini niemals ihren Mann umgebracht hätte, natürlich. Vielleicht war er total dicht, als er ins Bett ist, und Tini hat nicht gemerkt, wie schlecht es ihm ging, weil sie im Wohnzimmer eingeschlafen ist.« Sie ging zu ihrem Sessel zurück und blieb daneben stehen. »Kann man an einer Alkoholvergiftung sterben?«

9
    Sara lehnte am Steingeländer der Brücke und sah den dick vermummten Frauen und Männern zu, die ihre Curlingstöcke über die vom Schnee befreite Oberfläche des Nymphenburger Kanals schlittern ließen. Der Geruch nach Glühwein hing noch in der Luft, obwohl der kleine Kiosk, an dem man sich an kalten Wintertagen Eisstöcke leihen und Getränke und Hotdogs kaufen konnte, schon geschlossen hatte. Es musste kurz nach zehn sein. Früher waren sie oft zu viert hier gewesen, Paul, Tini, Ronnie und sie, hatten Glühwein getrunken und ihre Füße beim Eisstockschießen steifgefroren. Früher … Wie das klang. Als wäre es Jahre her, dabei waren sie doch erst … Sie schüttelte ungläubig den Kopf. Es war über zwei Jahre her.
    Jetzt war Paul tot.
    Angeblich ermordet.
    Und Tini wurde noch immer verhört.
    Es war unfassbar.
    Wie oft hatte sie Tini um ihre harmonische Ehe beneidet, sich gewünscht, dass Ronnie so verständnisvoll und tolerant wäre wie Paul, sie auch so aktiv darin unterstützte, beruflich Fuß zu fassen. Und auch so einen tollen Humor hatte. Deswegen hatte Tini sich in ihn verliebt, sie erinnerte sich noch gut daran. Wie unglaublich blind sie gewesen sein mussten, dass Tini und Paul ihnen ihre Probleme so lange verheimlichen konnten. Eigentlich sollte sie Ronnie Abbitte leisten, vielleicht war sie wirklich einfach zu empfindlich, was seine Kommentare betraf. Oder erwartete sie schlicht zu viel? Empfand sie deshalb ihre Ehe nicht als glücklich?
    Dabei war Ronnie ein vorbildlicher Vater. Überhaupt, was war Glück? Rosarotes Abendglühen bei Rosamunde Pilcher?
    Sie blickte unschlüssig auf das Päckchen Zigaretten, das sie vor etwa zehn Minuten gekauft hatte, und begann langsam die Folie abzuziehen. Vorsichtig öffnete sie die Schachtel, entfernte das Silberpapier und roch mit geschlossenen Augen an dem Tabak. Dann steckte sie die Packung zurück in ihre Manteltasche. Wie schnell sich eine Situation ändern konnte. Heute früh waren sie eine ganz normale Familie gewesen, jetzt war ein Familienmitglied tot und ein weiteres stand unter Mordverdacht.
    Was war nur geschehen? Sie nahm eine Zigarette und sah sich um. Knapp einen Meter neben ihr stand ein Mann. Sein Blick war starr geradeaus gerichtet, als wäre er in seiner eigenen Welt versunken, mit einem zufriedenen Lächeln, das seine schmalen Lippen umspielte.
    Was soll’s . Sie machte einen Schritt auf ihn zu und bat ihn um Feuer. Bemerkte, wie er sie musterte, als das Feuerzeug ihr Gesicht im Schein der Flamme kurz erhellte.
    »Was macht so eine hübsche Frau wie Sie hier ganz allein?«
    »Ich denke nach.«
    »Ein guter Ort dazu, nicht?«
    »Ja, still und ungestört.« Sara hoffte, dass er den Wink kapieren würde. Er blieb stumm neben ihr stehen. Dann hakte er nach: »Liebeskummer?«
    »Glücklich verheiratet.« Sie hob die Hand, in der sie die Zigarette hielt, um dem Fremden ihren Ehering zu zeigen.
    »Na dann, schönen Abend noch«, murmelte der Mann und

Weitere Kostenlose Bücher