Ich sehe dich
Teller.
»Nächsten Montag fange ich an«, antwortete sie und aß weiter, ohne ihn anzublicken.
»Und wie stellst du dir das vor?« Sein Ton war sachlich distanziert, aber nicht unfreundlich.
»Was meinst du?«
»Was ist mit Jonas? Wird er jetzt ein Schlüsselkind?«
Jonas sah sie erschrocken an.
»Er geht zur Schule, was denn sonst?« Sara zerteilte die Ruccolablätter auf ihrem Teller in kleine Fetzen. »Die Mittagsbetreuung der dritten Klasse soll sehr gut sein.«
»Und wenn er krank ist?«
»Nehme ich mir frei.« Sie schnappte sich die Pfeffermühle und würzte mit drei energischen Drehungen das Fleisch nach. »Was soll das? Fragst du das die Bewerberinnen im Krankenhaus auch? Das ist sexistisch.«
Ronnie setzte zu einer Antwort an, als das Telefon klingelte.
»Das wird Tini sein.« Sie stand auf. »Hallo?«
»Sara, Tini …« Die Worte ihrer Mutter gingen in Schluchzen unter. Saras Herz zog sich zusammen.
»Mama! Was ist mit Tini?«
6
Der Raum war leer. Lydia blickte auf die große Wanduhr über dem Eingang. Zwanzig vor sieben. Das Treffen begann um sieben. Sie öffnete ihre Jacke und überlegte, ob sie die Zeit nutzen sollte, um in dem kleinen Büro neben dem Veranstaltungssaal ihre Mails abzurufen, als sie aus der Kochnische am hinteren Ende des Saales ein Hämmern hörte. Sie legte die Jacke über einen der bereits im Kreis aufgestellten Stühle und ging zur Kochnische.
»Petra! Was machst du denn schon hier?«
»Diese Scheißmaschine! Erst braucht sie Wasser, dann Bohnen, dann muss sie spülen und jetzt soll ich sie auch noch reinigen. Nur Kaffee macht sie nicht.« Petras sonst so blasses Gesicht hatte rote Flecken, ihr strenger Dutt hing schief zur Seite.
Lydia lachte. »He, es ist nur eine Kaffeemaschine. Komm mal wieder runter!« Sie ging zur Kaffeemaschine und schaltete sie aus. »Was hältst du davon, wenn wir eine Kanne Tee kochen? Ist eh besser am Abend.«
Petra trat einen Schritt zurück. »Seit wann gibst du so leicht auf?«
»Seit wann lässt du dich von so einer Lappalie aus der Ruhe bringen?« Lydia öffnete den kleinen Hängeschrank und entnahm ihm zwei rote Tütchen. »Links oder rechts?«
»Ich hasse es, wenn die einfachsten Dinge nicht funktionieren.« Die Flecken in Petras Gesicht verblassten langsam.
»Was ist wirklich los?« Lydia musterte Petra aufmerksam. »Hat er wieder gegen die Auflagen verstoßen?«
»Nein es ist wegen dir. Ich kann dich nicht ersetzen!« Sie stieß die letzten Worte mit einer Heftigkeit hervor, die Lydia erschreckte. »Wie soll das gehen? Die Gruppe wird mich nie als Leiterin akzeptieren. Ich bin doch nur eine von ihnen!«
»Petra. Ganz langsam. Du bist am längsten dabei, und du hast den Absprung geschafft. Du weißt, durch welche Hölle die anderen gehen, und du weißt, dass man sich daraus befreien kann.« Lydia legte ihre Hand auf Petras Schulter. »Und außerdem musst du mich nicht völlig ersetzen, sondern nur ab und zu vertreten. Ich habe Berlin abgesagt.«
»Du … du bleibst? Du nimmst den Job nicht an?« Petra blickte Lydia skeptisch an, als wolle sie den Wahrheitsgehalt der Aussage testen.
Lydia nickte und wandte sich ab. Sie wollte nicht, dass Petra ihr die Enttäuschung ansah, die sie bei dem Gedanken an Berlin wieder überfiel. Schweigend löffelte sie die Teemischung in eine Filtertüte und goss den Tee auf.
»Aber ich dachte, das sei deine Chance, endlich diesen blöden Job bei dem Versicherungsheini aufzugeben und für deine Frauenarbeit bezahlt zu werden. Wie lange arbeitest du jetzt schon ehrenamtlich für die Selbsthilfegruppen? Vier Jahre? Fünf Jahre? «
»Ich gehöre hierher.«
»Es ist wegen Anina, oder?« Petra senkte ihre Stimme. »Du bist noch immer nicht darüber hinweg?«
Mit einem Ruck hob Lydia die Filtertüte aus der Kanne und warf sie ins Waschbecken. Sollte sie Petra den wahren Grund für ihre Entscheidung sagen? »Unsinn! Meine Entscheidung hat nichts mit Anina zu tun.«
»Die Rosen auf ihrem Grab waren von dir, oder?«
Lydia schaute sie überrascht an. »Du warst dort?«
»Natürlich.« Petra hob die Arme wieder zum Kopf und löste ihren Dutt. »Ich bringe ihr immer Nelken am Todestag.« Geschickt drehte sie die langen, graublonden Haare zu einer ordentlichen Schnecke und steckte sie mit drei Nadeln fest.
»Ihr hattet große Pläne, ich weiß das von Anina. Ihr zwei gegen den Rest der Welt.« Petra lächelte jetzt, ihr Blick schweifte ab, als könne sie etwas sehen, das Lydia verborgen
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