Ich soll nicht töten
Ketten in aufrechter Haltung an einen Pfosten gefesselt. Geknebelt, mit einem Stofffetzen im Mund. Sie schien sich in einer Art Scheune oder Nebengebäude zu befinden; Sonnenlicht fiel schräg durch Lücken in den Balken über ihr und erzeugte Säulen, in denen Staub tanzte. Es war also noch Tag. Immerhin etwas. Wirklich schlimme Dinge– wahrhaft schreckliche, grauenhafte Dinge– stießen einem nicht am helllichten Tag zu.
Oder?
Ein Mann erhob sich von einem alten, ramponierten Stuhl. » Machst du dir Sorgen?«, fragte er und kam auf sie zu. » Hast du Angst?«
Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Sie war immer noch desorientiert– vage erinnerte sie sich, dass sie in die Gasse hinter dem Coff-E-Shop gegangen war, um den Müll hinauszubringen. Und ein Mann… hatte sich genähert… Hilfe angeboten…
Dann ein kleiner Stich und…
» Hast du Angst?«, fragte er wieder und klang aufrichtig besorgt.
Sie sah immer noch verschwommen von dem Mittel, das er ihr verabreicht hatte. Sie überlegte fieberhaft– was, was nur war die beste Antwort? Ihre Freundin Marlene hatte ihr einmal erzählt, man müsse sich für einen Vergewaltiger menschlich machen. Sich als realer Mensch darstellen, damit sie aufhörten, einen als Objekt zu behandeln. Würde das funktionieren?
Sie hatte nur diese Chance. Sie nickte einmal, kurz nur, fast als fürchtete sie sich zuzugeben, dass sie Angst hatte.
» Na, na, na«, sagte er, inzwischen auf Armeslänge herangekommen. » Hab keine Angst.« Er griff in seine Tasche, entfaltete demonstrativ ein abgenutztes Blatt Papier und überflog dessen Inhalt.
» Ich habe das zwar auswendig gelernt«, sagte er in leicht jovialem Ton. » Aber ich wollte mich vergewissern, dass ich mich richtig erinnere. Du weißt ja, wie das ist.«
Sie nickte heftig, um ihre Zustimmung zu signalisieren, um sich gut mit ihm zu stellen. Jetzt, da er näher war– und da ihre Sicht klarer wurde–, konnte sie ihn sehen. Durchschnitt. Langweiliger Durchschnitt. Irgendwie kam er ihr bekannt vor, aber sie sah jeden Tag so viele Gesichter im Café…
O Gott! Sie sah sein Gesicht! Brachten sie die Leute nicht normalerweise um, wenn sie ihr Gesicht gesehen hatten?
» Ich weiß, was du denkst«, sagte er beschwichtigend. Er grinste aufgesetzt schüchtern. » Du denkst, da du mein Gesicht gesehen hast, muss ich dich töten, richtig? Ts, ts. Mach dir darüber keine Sorgen. Ich habe ein ziemlich gewöhnliches Gesicht. Meine eigene Mutter hat mich ständig im Supermarkt verloren.« Er kicherte, und sie hätte gern mit ihm gekichert, sie brannte darauf, mit ihm zu kichern. Aber sie hatte einen Stofffetzen im Mund.
» So, dann wollen wir mal zur Sache kommen«, sagte er und konsultierte erneut das Papier. » Dein Name ist Helen Myerson, richtig?« Ehe sie antworten konnte, hielt er ihre Handtasche am Riemen in die Höhe. » Vergiss nicht, ich kann in deinem Führerschein nachschauen, also keine Lügen. Helen Myerson?«
Sie nickte.
» Und du arbeitest als Kellnerin, ja?«
Erneutes Nicken.
» Ausgezeichnet!« Er lächelte sie an und zwinkerte sogar einmal freundlich, dann faltete er das Papier wieder zusammen und steckte es in seine Tasche. » Ich werde dir jetzt den Knebel aus dem Mund nehmen. Was ich auslasse, ist die Stelle, wo ich sage: › Schrei nicht, oder es wird dir leidtun.‹ Denn weißt du was, Helen? Schrei ruhig, so viel du willst. Es stört mich nicht im Geringsten. Niemand wird dich hören, deshalb ist es mir egal. Falls es dir also besser geht, wenn du schreist, dann nur zu.«
Sie überlegte, ob sie ihn zwingen sollte, die Karten auf den Tisch zu legen, als der Knebel aus ihrem Mund war, aber sie stellte fest, dass sie zu viel Angst hatte, um zu schreien.
» Wirklich?«, sagte er. » Nichts? Du willst nicht schreien? Auch gut. Wie es dir am besten passt.« Er seufzte, schob die Hände in die Taschen und sah sie mit einem schiefen Grinsen an, als wüsste er nicht recht, was er hier trieb oder was sie hier tat und wie sie beide überhaupt in diese Situation geraten waren.
» Weißt du, was ein Impressionist ist, Helen?«, fragte er plötzlich.
Ihre Lippen waren trocken geworden, und sie befeuchtete sie, bevor sie sprach. Der Klang ihrer eigenen Stimme überraschte sie– sie klang tief und fremd. » Ist das nicht… ist das…« Sie holte tief Luft. Es war Wahnsinn, aber vielleicht ließ er sie gehen, wenn sie seine Frage beantwortete. Sie hatte schon verrücktere Dinge gehört. » Ist das nicht eine Art
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