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Ich steig aus und mach 'ne eigene Show (German Edition)

Ich steig aus und mach 'ne eigene Show (German Edition)

Titel: Ich steig aus und mach 'ne eigene Show (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eveline Hall , Hiltud Bontrup , Kirsten Gleinig
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schief dastand, hieß es: »Du hängst da wie Turnvater Jahn zwischen Reck und Barren.« Oder: »Sag mal, du siehst aus wie Quasimodo. Bist du so geboren? Ihr müsst ein Kreuz machen, Kinder.« Er brachte uns bei, dass Wirbelsäule und Schultern ein Kreuz bilden und dass wir, wenn wir dieses Kreuz nicht halten, keine Pirouette drehen können. »Ihr müsst bedenken, dass alles, was ihr tut, aufgebaut ist wie eine Linie. Verlasst ihr sie, könnt ihr euch nicht auf der Spitze halten. Wenn ihr auf der eigenen Achse bleibt, habt ihr gewonnen.« Das verband sich bestens mit dem Anatomieunterricht, und so verinnerlichte ich diese Dinge ganz und gar. »Ballett ist ehrlich. Ballett ist wahr. La vérité «, sagte Gustav Blank. Alle liebten ihn, für diese Weisheiten und für seinen Witz, denn er verband jede Kritik mit Humor. »Was wackelst du da hinten rum? Nimm dir mal ein Beispiel an Anna Pawlowa. Die hat so lange auf der Spitze gestanden, dass ihr Partner zwischendurch in die Kantine gehen konnte.« Mit seinem scharfen Blick sah er alles, jede noch sokleine falsche Bewegung. Und er bemerkte auch, wenn ich ein neues Trikot trug, nach jedem meiner Geburtstage, denn Trainingskleider waren das Einzige, was ich mir wünschte. Dann kam er richtig ins Schwärmen: »Du heute wieder ganz in Blau – nein, so was, entzückend!«
    Konnte eine von uns etwas besonders gut, holte er sie nach vorn, damit sie es zeigte. Bei mir waren es die Fouettés , die endlosen Drehungen auf der Spitze, bei denen sich das Spielbein wie ein Propeller im Kreis dreht. Keine drehte Fouettés so wie ich. »Evelinchen, zeig uns mal, wie das geht«, sagte Gustav Blank eines Tages. Vor den Augen aller Elevinnen wirbelte ich stolz quer durch den Ballettsaal. Und Gustav Blank nickte zufrieden und sagte: »Aus solchem Holz werden Tänzerinnen geschnitzt.« Da wäre ich ihm am liebsten um den Hals gefallen und vor Freude gleich noch einmal durch den Saal gewirbelt. Wenn er es so sah, dann musste es stimmen: Ich war Tänzerin!
    Als ich mit meiner Ausbildung begann, war Rolf Liebermann Intendant der Hamburgischen Staatsoper. Noch heute bin ich stolz darauf, dass ich unter ihm groß werden durfte. Er hat mit seinem umfassenden Kunstverständnis mein Leben geprägt. Für ihn gehörte in der Musik alles zusammen: Instrumente, Gesang und Tanz. Schon auf den ersten Blick war er eine eindrucksvolle Erscheinung, groß und schlank, und er hatte eine Aura, in die ich mich hätte verlieben können. Er verstand sich nicht als Verwalter des Theaters, sondern als kreativen Teil des Ganzen. Darum war er ständig im Haus unterwegs, sprach mit allen, von der Opernsängerin bis zum Bühnentechniker, und suchte nach einer gemeinsamen Lösung. Das hieß auch, dass er die Dinge kritisch betrachtete, und da er tatsächlich von allen Künsten viel verstand, war seine Kritik auch im Ballett immer fundiert. »Um wirklich oben zu sein, musst du von allem etwas beherrschen.« Das war sein Credo, das er uns vermittelte. 1962 probten wir für die Erstaufführung von Les Sylphides , einem handlungslosen, abstrakten Ballett von Chopin, das zu Liebermanns Lieblingsballetten zählte. Eine der Tänzerinnen war krank geworden und ich sollte ihren Part übernehmen. Liebermann saß schon während der Proben auf seinem angestammten Platz: Reihe eins, dritter Platz rechts. Von dort aus verfolgte er jeden Abend die Vorstellung. Ich stand in der Gruppe der Sylphiden und wir alle trugen lange weiße Tutus. Die Elevin, die ich ersetzte, war gefühlt drei Köpfe kleiner als ich, sodass die Proportionen in der Gruppe nicht mehr stimmten: Mein Tutu reichte nicht so tief wie die anderen, es wippte an meinen langen Beinen weit darüber. Mitten in unseren Tanz hinein stürzte Liebermann, völlig außer sich, auf die Bühne: »Frau Vernici«, rief er in seinem Schweizer Dialekt, »wer hat dem Kind dieses Kleid verpasst?« – »Guten Tag, Herr Professor. Eveline, komm doch bitte mal her. Darf ich Ihnen unser jüngstes Mitglied vorstellen: Eveline Klopsch.« – »Guten Tag, mein Kind. Sie können ja nichts dafür. Aber dieses Kleid ist doch zu kurz. Ja, sieht denn das keiner? Da kann man sich ja gar nicht auf die Musik und die Schritte konzentrieren, sondern guckt nur immer auf das kurze Kleid. Wir sind doch nicht in der Provinz!« – Isabella Vernici, die mit uns die Szenen einstudierte, gab mir ein Zeichen. Mit einem Affenzahn düste ich in die Schneiderei, wo mir ruck, zuck ein neues Kostüm geschneidert

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