Ich steig aus und mach 'ne eigene Show (German Edition)
wurde.
Kaum war ich wieder auf der Bühne, tauchte das nächste Problem auf. An einer Stelle im Ballett musste eine der Solistinnen nach vorn trippeln und auf Halbspitze an der Rampe eine Arabesque penchée machen, mit nach oben ausgestrecktem Bein. Und da die halbe Spitze in dem harten Spitzenschuh viel schwieriger zu halten ist als im Schläppchen, wackelte sie. Zum großen Missfallen von Liebermann, der nun zum zweiten Mal aufsprang: »Es ist mir vollkommen gleichgültig, wer hier Gruppe, Solo, Ballerina oder Primaballerina ist! Ich will, dass da vorne eine steht, die nicht wackelt! Sie sind doch nicht auf dem Seil. Da schaut doch jeder hin. Dass ihr das gar nicht seht. Wer ist hier imstande, das vernünftig zu machen?« Jetzt traten die Tänzerinnen vor, eine nach der anderen, und zeigten, wie sie auf der halben Spitze standen. Ich schaute mit großen Augen von der Seite aus zu und war gespannt, wen Liebermann herausgreifen würde. Am Ende gefiel ihm eine Gruppentänzerin am besten und die Solistinnen machten lange Gesichter. »Ich danke Ihnen, mein Kind. Das ist mein Lieblingsballett, das liegt mir am Herzen.« So war Liebermann: Es ging ihm einzig und allein darum, das Beste aus allen herauszuholen, um etwas Großes auf die Bühne zu bringen. Dieser Grundsatz hat sich mir so eingeprägt, dass ich mein ganzes Leben lang danach gehandelt habe.
Für Liebermanns Ziel mussten wir hart arbeiten, ohne Ausnahme. Hatten wir einmal einen Durchhänger, so blieb das nicht ohne Folgen. Wenn Liebermann uns nicht selbst ansprach, ließ er seine Kritik von den Lehrern übermitteln. Isabella Vernici sprach deutliche Worte und ließ keinen Zweifel, dass der Haussegen schief hing: »Ich muss mit euch rreden«, sagte sie streng, und dann wussten wir schon, was uns blühte. »Liebermann warr bei mir, gestern nach der Don-Giovanni- Prrobe – ihr wärrt beschissen gewesen! Habt ihr gehörrt? Ihr könnt Euch nicht nur auf die Ballettabende konzentrrieren und in der Oper nachlassen. Da ist genau derrselbe Einsatz gefordert. Wisst ihr, werr der Dirrigent war? Wisst ihr, werr gesungen hat? Das sind alles Menschen mit Rriesennamen, und ihr verpatzt das Ganze, weil ihr desinterressiert seid. Ich kann euch sagen: Das gibt eine Prrobe, die sich gewaschen hat!« Auf diese Weise wurden wir gedrillt. Und diese Haltung, dass man immer sein Allerbestes geben muss, damit etwas Großes entsteht, diese Haltung ist mir in Fleisch und Blut übergegangen. Sie knüpfte direkt an das an, was mein Vater mir mit auf den Weg gab. Liebermann und mein Vater haben mich geprägt, jeder auf seine Art. Mein Vater war ein echter Despot in Sachen Bildung, aber ein äußerst humorvoller. Und Liebermann stand für mich als Maßstab über allem. Wenn er Kritik übte, dann immer sachlich, nie persönlich. Ich wusste, er verstand etwas von der Technik beim Tanzen, und wenn er Dinge bemängelte, dann mit Recht. Es war wie in einer funktionierenden Beziehung: Man muss sich auch den Schwierigkeiten stellen und sie gemeinsam anpacken, damit die Liebe nicht erlischt. Und wenn es gelingt, dann ist das Gefühl hinterher umso erhebender.
Meine Liebe zum Tanz war unendlich. Es gab für mich nichts anderes im Leben. Entsprechend hasste ich die Wochenenden. Samstag und Sonntag waren die reinste Pein, weil ich nicht zum Unterricht konnte. Dann übte ich zu Hause, und wenn ich es gar nicht mehr aushielt, fuhr ich auch sonntags in die Oper. Vom Pförtner, der das schon kannte, ließ ich mir den Garderobenschlüssel geben, und wenn ich ihn in der Hand hielt, hüpfte mein Herz vor Freude. Ich schlüpfte in meine Ballettkleider wie in eine zweite Haut und trainierte ganz allein im großen Saal. Dann war wieder alles gut, nichts und niemand konnte mir etwas anhaben.
Dass es nicht viel brauchte, um mich aus der Bahn zu werfen, wurde mir bald schmerzlich bewusst. Es war der 26. Oktober 1961, ein Datum, das ich nie vergessen werde. Gustav Blank ließ uns Grand jetés über die Diagonale machen, große Sprünge mit ausgestreckten Beinen. Ich wollte an diesem Tag über mich hinauswachsen und drehte mein Sprungbein auswärts, so weit ich nur konnte. Bei jedem Sprung versuchte ich, noch mehr aus mir herauszuholen, doch plötzlich durchfuhr mich ein wahnsinniger Schmerz. Ich fiel zu Boden und verlor fast das Bewusstsein. Als ich mich wieder aufrichtete, sah ich, dass die rechte Kniescheibe zur Seite gesprungen war. Vor lauter Schreck bei diesem Anblick schlug ich mit der flachen Hand
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