Ich steig aus und mach 'ne eigene Show (German Edition)
darauf, sodass sie wieder ins Gelenk rutschte. Aber damit war die Sache nicht erledigt. Gustav Blank ließ sofort einen Krankenwagen rufen. Sie brachten mich zu Dr. Küchlin, der als Sportarzt eine Koryphäe war – und ein echter Dragoner. Er duzte mich und stellte als Erstes klar: »Weinen gibts hier nicht. Ich will wissen, was passiert ist.« Nachdem ich ihm die Geschichte erzählt hatte, röntgte er das Knie und stellte eine Bänderdehnung fest. Ich durfte mir einen Vortrag anhören, wie unvernünftig Balletttanzen sei und dass man besser Fußball spiele. Das sei das einzig Richtige. Dr. Küchlin war nämlich begeisterter Anhänger des HSV. Dann erst kam er auf die Behandlung zu sprechen: Er verpasste mir einen Zinkleinenverband und verdonnerte mich dazu, alle zwanzig Minuten in der Dusche kaltes Wasser darüberlaufen zu lassen, damit die Bänder sich wieder zusammenzogen und die Schwellung abheilte. »Wir wollen ja erfahren, ob das Knie nur auf eine günstige Gelegenheit gewartet hat, um rauszuspringen, oder ob es einfach eine unglückliche Bewegung war.« – »Und wann kann man das erfahren?«, fragte ich flehend. – »Das weiß ich noch nicht. Mindestens vier Wochen, vielleicht fünf. Das liegt da oben, in der Hand vom lieben Gott. Und nun ordentlich kaltes Wasser! Nächste Woche will ich das Knie wiedersehen.«
Eine Woche lang hielt ich mein Knie tapfer unter die Dusche, hoffte, dass es heilen würde. Alles sprach dafür. Doch auf dem Weg zur Praxis rutschte ich vorm Haus auf dem feuchten Herbstlaub aus und die Kniescheibe sprang wieder heraus. So ging die Chose von vorn los: Dr. Küchlin fluchte übers Tanzen, pries den HSV und verbot mir zu weinen: »Ziege, jetzt heule nicht! Es gibt doch noch gar keinen Grund. Hab ich gesagt, du kannst nicht mehr tanzen? Nein, hab ich nicht gesagt. Sag ich auch nicht. Also, wieder kalte Dusche und dann sehen wir weiter.« Hinter seiner rabiaten Art blitzte etwas Liebevolles durch und ich wusste, er setzte alles daran, mir zu helfen. Sechs Wochen verbrachte ich ruhiggestellt zu Hause. Ich fand es unerträglich, nichts tun zu können, nur zu warten. Womöglich darauf, dass ich nie wieder würde tanzen können. »Ich nehme mir das Leben! Wenn ich nicht mehr tanzen kann, ist mein Leben vorbei.« Meine Mutter war in großer Sorge, aber mein Vater reagierte mit Humor, zumindest mir gegenüber: »Am besten springste gleich hier vom Balkon. Is allerdings n bisschen niedrig. Wenns nich klappt, denn wirste eben Sekretärin. Wat meinste, wattet für schöne Berufe jibt.« Doch abends, wenn sie allein waren, sprach er mit meiner Mutter über seine Angst: »Det könnten wa ja jar nich ertragen. Da hat se doch so viel rinjesteckt, und wenn dann det Herz kaputtjeht … Ick hab ja nie jebetet in meinem Leben. Gisela, Du hast doch die besseren Beziehungen nach oben. Mach’ Du det dochmal.«
Endlich kam der Tag, an dem der Verband abgenommen wurde. Dr. Küchlin begutachtete das Knie und forderte mich auf: »Spring mal! Jetzt will ich sehen, ob es hält.« Ich machte vorsichtig einen Hopser. »Ich kann mir vorstellen, dass du sofort gefeuert wirst, wenn du so auf der Bühne springst. Zeig mal, was du kannst. Ich will einen richtigen Sprung sehen.« Da fasste ich mir ein Herz, nahm Anlauf und machte einen Grand jeté – mitten im Arztzimmer. Mein Knie hielt! Die Bänder waren wieder fest. Es blieb der einzige Tanzunfall meines Lebens.
Im Juni 1962 feierte die Hamburgische Staatsoper den achtzigsten Geburtstag von Igor Strawinsky mit einem großen Ballettabend. Liebermann, der ihn sehr verehrte, hatte dies von langer Hand vorbereitet. Es gehört wohl zu seinen größten Erfolgen, dass Strawinsky für diesen Tag Hamburg den Vorzug gab und nicht den Einladungen aus dem Kreml oder Washington folgte. Drei Stücke des Komponisten standen auf dem Programm: Orpheus, Agon und Apollon Musagète, bei dem Strawinsky selbst am Dirigentenpult stand. An diesem Abend herrschte eine ganz besondere Stimmung in der Oper, sowohl im Publikum als auch bei uns auf der Bühne. Mit der Choreografie war George Balanchine betraut. Er war Russe, 1904 geboren und arbeitete eng mit Strawinsky zusammen. Balanchine hatte seine Karriere in Djagilews Ballets Russes begonnen und später das New York City Ballet gegründet. Aus New York hatte er Solisten mitgebracht, die gemeinsam mit dem Hamburger Ensemble tanzten. Zusätzlich war ich mit zwei anderen Elevinnen ausgewählt worden. Ich tanzte eine der Furien in Orpheus
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