Ich steig aus und mach 'ne eigene Show (German Edition)
schönen Stoffen, ausgefallenen Schnitten, Häkchen, Knöpfen und Rüschen, all dem, was im Theater damals mit viel Liebe zum Detail fabriziert wurde. In der Berufsschule für Künstler hatte ich Kostümgeschichte gelernt, eines meiner liebsten Fächer. Stundenlang blätterte ich in dem Bildband und träumte von den Kleidern verschiedener Epochen: Rokoko, Zwanzigerjahre, Art déco. Die Vielfalt, die sich mir eröffnete, regte meine Fantasie an. Ich begann, selbst mit Mode zu experimentieren. In meiner Freizeit nähte ich ohnehin alles Mögliche für mich und meine Mutter, ich flickte meine Trikots und besserte aus, was noch tragbar war. Jetzt kamen eigene Ideen hinzu. Ich schuf aus Altem etwas Neues, schnitt hier etwas ab, nähte dort etwas an. Ein Kleid gefiel mir plötzlich ohne Ärmel oder mit neuem Gürtel besser. Manchmal fragte ich auch im Fundus, ob ich etwas behalten oder Einzelteile mitnehmen dürfe. Daraus nähte ich die tollsten und ausgefallensten Kleider.
Viel Gelegenheit, sie zu tragen, hatte ich allerdings nicht, denn den Großteil meiner Zeit verbrachte ich im Ballettsaal und auf der Bühne. Im Laufe der Jahre führten wir zahlreiche Ballettabende auf, zur Musik von Carl Maria von Weber oder Felix Mendelssohn Bartholdy, Gaetano Donizetti oder Maurice Ravel. Auch Werke von modernen Komponisten standen auf dem Spielplan: Abraxas von Werner Egk, Verklärte Nacht von Arnold Schönberg, Les Forains von Henri Sauguet und Études von Knudåge Riisager. Von Stück zu Stück erweiterten wir unser Repertoire. Liebermann wollte der Hamburgischen Staatsoper international zu Ansehen verhelfen und damit meinte er auch das Ballett. So wuchs unter seiner Führung das Ensemble, mehr Tänzer wurden engagiert, mehr Ballettabende gegeben. Auch im Tanz sollten Leute von Rang und Namen mitwirken. Das gelang ihm zum einen mit dem neuen Ballettmeister Peter van Dyk, der vorher als erster Deutscher als Premier danseur étoile an der Pariser Oper getanzt hatte. Vor allem aber durch den großen George Balanchine, den Liebermann wiederholt nach Hamburg holte. Van Dyk stand für die Perfektion des klassischen Tanzes, Balanchine für die Moderne.
Das süße Leben
Um im Ausland bekannt zu werden, ging unsere Kompanie regelmäßig auf Tournee. Das war ein ganz besonderes Highlight für uns Tänzerinnen und Tänzer. Mitte der Sechzigerjahre wurden wir nach Paris eingeladen, wo wir im Théâtre des Champs-Élysées auftraten. Die große weite Welt – das musste ich natürlich auskosten. Schon beim Reinfahren in die Stadt schlug mein Herz höher, und kaum hatte ich meinen Koffer im Hotel abgestellt, ging ich auf Erkundungstour. Ich wollte alles sehen: den Eiffelturm, den Arc de Triomphe, den Louvre, die Parks und Gärten. Ich zündete eine Kerze an in Sacré-Cœur, dann fuhr ich zu den alten Markthallen. Mir gingen die Augen über bei all den leckeren Dingen: Obst und Gemüse, Käsesorten, die ich noch nie in meinem Leben gesehen, geschweige denn gegessen hatte, und sogar lebendes Geflügel. Ich probierte hier und dort ein bisschen und ließ mich treiben in dieser wunderschönen Stadt. Das Ballett vergaß ich darüber fast.
So ging es mir auch kurz darauf in Barcelona. Gleich am Nachmittag nach unserer Ankunft ging ich in das berühmte Restaurant Los Caracoles, das damals noch nicht von Touristen überschwemmt wurde, und schlug mir den Magen voll mit spanischen Tapas. Anschließend musste ich natürlich ans Wasser, das Meer sehen. Mein Vater hatte mir lauter Dinge aufgetragen, die ich mir anschauen sollte. »Weißt ja, wie det im Leben is, mein Kind. Nach Barcelona kommste nich alle Tage.« Ich wollte nichts verpassen. Während die anderen überprüften, ob die Bühne in Ordnung war oder vielleicht doch ein wenig schief, verlustierte ich mich in der Stadt. Von heute aus betrachtet sind dies die ersten Schritte, mit denen ich mich vom Ballett entfernte. Ich war neugierig und wollte sehen, was das Leben mir sonst noch bot. Darüber vergaß ich für den Moment meine Verantwortung. Mein Pflichtgefühl, das ich in Hamburg am Tag einer Aufführung hatte, verließ mich auf unseren Tourneen vollkommen. Unterwegs zu sein, auf der Reise, das hatte einen unglaublichen Reiz für mich.
Eine der schönsten Seiten des Lebens lernte ich kennen, als ich im Sommer nach Cannes fuhr. Dort stand die berühmte Ballettschule der amerikanischen Tänzerin Rosella Hightower. Sie hatte selbst auf den großen Bühnen in Europa und den USA getanzt und 1961,
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