Ich steig aus und mach 'ne eigene Show (German Edition)
vorgesehen hatte: Roland Petit, der große französische Tänzer, Choreograf und Leiter der Ballets de Paris, der den klassischen Tanz mit neuen Elementen verband – bis hin zu Showeffekten. Das kam nicht bei allen im Ensemble gleich gut an, vielen war es zu modern. Sie murrten, bis Liebermann sie auf die ihm eigene Art zur Raison rief: Ich aber war fasziniert von der Aura, mit der Petit in den Ballettsaal trat, und von dem frischen Wind, den er ins Haus brachte.
Auf dem Programm stand Carmen von Bizet, und Petit hatte mich als Zweitbesetzung für die Titelrolle eingeplant. Dazu gab es ein zeitgenössisches Stück von 1958, die 24 Préludes von Marius Constant, den Petit als Dirigenten aus Paris kannte. Das hatte er mit Blick auf mich ausgewählt, ich sollte den Solopart tanzen. So stand ich mehr denn je unter dem Druck, die Pfunde wieder loszuwerden, und hungerte mir Kilo für Kilo vom Leib. Das Einzige, was ich noch aß, war eiskalter Joghurt, manchmal mit ein wenig Apfel. Das Falscheste überhaupt, wie sich herausstellte. Bei den Proben war schnell klar, dass ich meine alte Form nicht wie sonst wiederfand. Ich war kraftlos, ohne Biss, fiel ständig von der Spitze. Roland Petit war ganz verzweifelt und wusste ebenso wenig wie ich, was mit mir los war: »Mais qu’est-ce qui se passe, c’est pas possible!« – das ist doch nicht möglich. Ich konnte noch nicht einmal den Arm vernünftig heben, hing ausgelaugt an der Stange und war ganz offensichtlich krank. Schließlich besetzte er die Rollen um, Eveline Aldo wurde von der Liste gestrichen. Der Traum vom Solo war aus, ich war kreuzunglücklich. Und an meinem Zustand änderte sich nichts. Niemand wusste, was ich hatte. Erst die Röntgenaufnahme zeigte es – ein Magengeschwür. Offenbar hatte ich zu oft zu gnadenlos gehungert. Was das bedeutete, war klar: drei Monate strikte Bettruhe. Ich tat mich zuerst schwer, das zu akzeptieren, war aber so geschwächt, dass ich mich letztlich in mein Schicksal fügte.
Wochenlang lag ich zu Hause und ließ mich von Mami pflegen. Auch als ich langsam zu Kräften kam und wieder aufstehen konnte, musste ich mich weiter schonen. Während dieser Auszeit rückten andere Dinge in mein Blickfeld. Mein Interesse an dem, was in der Welt passierte, wuchs. Ich las Zeitung und sah im Fernsehen die Bilder der Studentenunruhen. Nach dem Tod von Benno Ohnesorg während des Schahbesuchs 1967 in Berlin und dem Attentat auf Rudi Dutschke im April 1968 schlugen auch die Hamburger Krawall. In allen Großstädten flogen Steine und Wasserwerfer trieben die Demonstranten zusammen. Ich verfolgte die Szenen gebannt am Bildschirm. Die Blockade des Springer-Verlages war ein großes Thema, auch bei uns zu Hause. Das Theater, das unsere Familie seit jeher prägte, war immer auch ein politischer Ort. Diskussionen kannte ich nur zu gut und nun nahm ich mehr und mehr daran teil. Ich interessierte mich plötzlich für alles Mögliche. Das war eine ganz neue Erfahrung, weil sich zum ersten Mal mein Horizont erweiterte. Meine Neugier war geweckt. Ich liebte die Beatles und die Rolling Stones, und als ich wieder gesund war, ging ich abends aus. Es ließ sich nicht mehr leugnen: Neben dem Tanzen forderten viele andere Dinge einen Platz in meinem Leben. Ich hatte das Gefühl, dass lauter Türen offen standen, die mich lockten und mir zuflüsterten: Komm mal rein, hier gibts was Tolles!
Körperlich fand ich meine alte Form erst 1969 wieder, in meiner letzten großen Rolle, der Katze in Pinocchio . Leichtfüßig und geschmeidig bewegte ich mich über die Bühne, und zwar in einem Kostüm, das mir bis heute sehr viel bedeutet: Ich trug ein durchgehendes rotes Trikot und dazu rote Spitzenschuhe – genau so ein Paar wie im Film Die roten Schuhe. Aber mit meinem Herzen war ich nicht mehr dabei. Mein Enthusiasmus hatte unglaublich gelitten, mein Feuer war erloschen. Ohne inneren Drang ging ich zu den Proben, ich spürte den Impuls nicht mehr, der mich früher motiviert und getragen hatte. Den Ehrgeiz. Den absoluten Willen. Die Krankheit hatte mich verändert. Ich hatte immer wie ein Motor funktioniert und es nie ertragen, wenn ich nicht rund lief. Bis auf die Knieverletzung waren es nur Wehwehchen gewesen. Nun hatte ich am eigenen Leibe erfahren, dass ich nicht unverwundbar war, dass auch mir etwas zustoßen und mich außer Gefecht setzen konnte, und zwar fundamental. Diese Erfahrung saß mir in den Knochen, auch nachdem ich wieder gesund war.
Wie sich zeigte,
Weitere Kostenlose Bücher