Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)
Vaters an meiner Tür. Mein Vater brüllt: »Lass mich rein! Lass mich rein!« Ich mache nicht auf. Ich weiß, dass er nicht Herr seiner selbst ist. Mein Zimmer hat ein großes Fenster. Wenn er es schafft reinzukommen, springe ich raus in die Nacht. Aber nach einer Stunde ist es ruhig. Ich lege mich hin. Schlafe.
Vier Jahre später, als ich neunzehn bin und schwanger, mache ich mir Sorgen, dass ein Gen, eine Neigung zu Gewalttätigkeit, in mir steckt. Meinem Vater waren sowohl Alkoholismus als auch Gewalttätigkeit erspart geblieben. Was aber, wenn ich so bin wie die Menschen, von denen er abstammt, die Alkoholiker, die nie aufgehört haben zu trinken, die ihre Kinder schlagen?
Im Verlauf meiner Schwangerschaft nimmt die Angst, dass ich gewalttätig veranlagt sein könnte, langsam ab. Als mein Sohn in meinen Armen liegt, fühle ich mich wie die Menschen, die ein Auto anheben können, unter dem ein Verletzter liegt, übermenschlich. Ich fühle mich wie das Gegenteil von jemandem, der Schaden zufügt. Ich hatte nicht gewusst, wie sich das anfühlen würde. Ich hatte nicht gewusst, dass ich jemanden, der meinem Sohn Schaden zufügen wollte, anfallen würde, dass ich Speer oder Axt gegen ihn erheben würde, dass ich mit Nägeln und Klauen versuchen würde, meinen Sohn vor Schaden zu bewahren. Aber da hatte ich schon die Entscheidung getroffen, ihn wegzugeben.
Godzilla
Ein Lastwagen hupt laut, als ich in die andere Spur wechsle. Ich grinse meinen Beifahrer an, einen Mann aus Kentucky. »Entschuldigung.«
»Klar. Du weißt, dass wir auf der falschen Straßenseite fahren, oder?«
»Was? Ah.« Ich fahre wieder auf die andere Spur. Er zieht die Augenbrauen hoch, schiebt mit den Füßen die Zeitungen und Flaschen auf dem Wagenboden zur Seite. Er beobachtet mich aus dem Augenwinkel. Seine Band ist vor einer Woche aus Orlando abgereist, zurück nach Kentucky. Aus irgendeinem Grund ist er noch da. Ohne Fahrzeug. Ich war zurück nach Orlando gezogen, nachdem ich achtzehn geworden und in meinem ersten Semester an einem College in Massachusetts auf Bewährung gesetzt worden war. Im nächsten Semester waren meine Noten besser, aber meine Eltern wollten trotzdem, dass ich wieder nach Florida kam und dort auf ein städtisches College ging. Und zu Hause wohnte. Ihr neues Haus liegt in derselben Siedlung, in der ich als Kind gewohnt hatte, nahe der Tangerine Avenue. Einen Monat später, im April 1982 , werde ich am College meinen Abschluss machen.
»Kannst du in deinem Zustand überhaupt fahren?«
»Natürlich.« Er wohnt in einem der Motels bei den Stripteasebars am Highway. Meine Freundin Sophie hatte ihn an der Bar gesehen und als den Sänger der Band erkannt. Sie fand den Schlagzeuger gut und hatte mich gebeten zu fragen, ob der auch noch da war. War er nicht.
»Mist, ich hatte mir Hoffnungen gemacht«, sagte sie. Eigentlich will ich Bill, den Barkeeper. Aber der ist nicht da. Als ich Sophie sage, dass ich den Sänger in sein Motel bringe, wird sie wütend. »Dann bist du um sechs Uhr morgens zu Hause, und deine Eltern liegen dir tagelang in den Ohren. Soll er doch sehen, wie er nach Hause kommt.«
»Ich fahre ihn.« Am nächsten Morgen rufe ich Sophie an und erzähle ihr, dass ich die Nacht mit dem Sänger verbracht habe, und sie sagt, ich würde zur Alkoholikerin.
»Du wirfst dich weg«, sagt sie. Ich weiß nicht, was sie meint. Warum ich, bloß weil ich mit diesem Typen mitgegangen bin, die Linie zwischen viel trinken und Alkoholismus überschritten haben soll. Ich bin verletzt, und Sophie entschuldigt sich.
Während der Schwangerschaft hatte ich meinen Alkoholkonsum im Griff – nicht mehr als zwei Gläser Wein am Abend. In einem Zeitschriftenartikel hatte ich gelesen, Wein sei gut. In den letzten sechs Monaten der Schwangerschaft hatte ich ein Verhältnis mit einem britischen Architekten, der in Kalifornien in einer ernsthaften Beziehung mit einer Frau zusammenlebte. Als er vorübergehend in Orlando arbeitete, lernten wir uns in dem Eisenbahnrestaurant kennen, wo ich zu arbeiten anfing, als ich im dritten Monat schwanger war. Victoria Station. Wahrscheinlich hat es ihn an zu Hause erinnert. Ich war schwanger und trank in Maßen – ich durfte dem Baby keinen Schaden zufügen. Nach der Arbeit gehen der Brite und ich manchmal zum Essen aus oder auf einen Drink. Bei ihm zu Hause gucken wir alte Fernsehshows, die ich nicht kenne, zum Beispiel
Get Smart.
Einmal saß ich bei ihm auf dem Schoß und hatte das Gesicht
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