Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)
Eher wie Isabelle Adjani in
Camille Claudel,
als sie verrückt wird, der Lippenstift verschmiert. Als wir noch zusammen waren, auf dem goldenen Stuhl, habe ich versucht, durch den Frotteestoff mit Tommys Zehen zu spielen, als wäre er ein größeres Baby, das Spaß daran hat, und kein Neugeborenes. Auf dem einen Foto von uns beiden halte ich seinen Fuß, mit der anderen Hand umfasse ich sein anderes Bein, sein gebeugtes Knie. Sein einer Arm lehnt an mir, der andere schwingt zur Seite aus, in die Luft. Sein Kopf ruht nur leicht auf meiner weißen Strickjacke, beinah als würde er nicht gestützt. Aber er ist mit mir entspannt, fast schläft er inmitten der roten Blumen.
Konstellation
Ich hatte Angst, ich würde ihm wehtun. Bevor er auf der Welt war, hatte ich Angst, ich würde meinem Sohn wehtun. Ich hatte Angst, mit mir sei etwas nicht in Ordnung, ich hätte ein böses Gen in meiner DNA . Früher hatte ich das nicht geglaubt. Ich hatte Babys immer gemocht. Als ich klein war, wurde ich von Babys wie magnetisch angezogen. In mein Babybuch schrieb meine Mutter in die Rubrik »Lieblingsdinge«: »Babys«.
Als ich elf war, fing ich an, auf ein Kind in der Nachbarschaft aufzupassen. Der Junge war vielleicht anderthalb. Seine Schwester ging in die erste Klasse. Alles ging gut, bis der Junge anfing zu weinen. Ich erinnere mich weniger daran, dass ich ihm einen Klaps gab, als an den Vorsatz vorher und die rote Stelle hinterher. Ich wollte ihm einen Klaps geben, aber ich wollte ihn auch trösten. Es gefiel mir, dass ich die Trösterin war, dass der Junge sich von mir beruhigen ließ.
Ich selbst fand es schrecklich, wenn ich geschlagen wurde. Nachdem ich dem Baby zum ersten Mal einen Klaps gegeben hatte, konnte ich kaum erwarten, es wieder zu tun. Ich saß auf der Couch und hoffte, er würde weinen. Hoffte, ich könnte eingreifen. Ihm einen Klaps geben. Ihn trösten. Seine Schwester sah mich misstrauisch an. Das machte mich nervös. Das Baby war mit einem Hirnschaden auf die Welt gekommen, aber das erzählte man mir erst viel später. Das letzte Mal, als ich auf das Baby dieser Familie aufpasste, war es mitten am Tag. Das Baby saß in seinem Hochstuhl und hatte seine Milch verkippt. Ich wollte ihn anschreien, als es an der Tür klingelte und meine Mutter hereinkam. Sie sagte: »Ist nicht schlimm, er ist doch ein Baby.« Und sie wischte die Milch mit einem Papiertuch auf. So etwas hatte ich noch nie erlebt – dass verkippte Milch, ein Missgeschick, verziehen wurde. An einem Nachmittag war ich in unserem Vorgarten, die Eltern des Babys sahen mich und riefen mich zu sich. Sie saßen auf Liegestühlen in ihrer Garage, das Baby war bei ihnen. Als ich näher kam, fing es an zu weinen. »Nein, nein, wir gehen nicht weg«, sagte die Mutter und lachte. Als wäre das der Grund, warum das Baby weinte.
Ich beschloss, nicht mehr auf ihr Baby aufzupassen. In dem Jahr war zum ersten Mal vom Schütteltrauma die Rede, für das es verschiedene Anzeichen gab. Ich hatte das Baby leicht geschüttelt, aber ich erinnere mich nicht daran, es heftig geschüttelt zu haben. Denn mein eigentlicher Wunsch war es, dem Baby einen Klaps zu geben und es dann zu trösten. Aber Jahre später, als ich sah, dass ein britisches Au-pair-Mädchen angeklagt war, weil es angeblich ein Baby durch Schütteln getötet hatte, und ein Elternpaar angeklagt wurde, weil sie ihr Baby geschüttelt hatten, war ich erschüttert und spürte, ich hatte Glück gehabt. Aber vorher stellte ich mir vor, ich würde das Baby, von dem in den Nachrichten die Rede war, in den Händen halten, es schütteln und dann den erschlafften Körper halten. Ich stellte mir vor, ich würde vor Gericht stehen, die Hände leer. Die Leere, wo das Kind gewesen war. So muss es einem Mörder gehen: das Adrenalin, das Entsetzen.
Ich erzählte nie jemandem, was ich getan hatte, aber ich erinnere mich, dass meine Mutter etwas von dem Hirnschaden des Babys erzählte. Sie sagte es nebenbei, in der Küche beim Abwasch. »Es ist bei der Geburt passiert«, sagte meine Mom. Aber in dem Augenblick dazwischen – nachdem ich gehört hatte, dass der Junge einen Hirnschaden hatte, und bevor ich erfuhr, dass es bei der Geburt passiert war – dachte ich, ich hätte den Schaden verursacht. Über dem Spülbecken war ein Fenster, von dem aus man das Haus der Familie auf der anderen Straßenseite sehen konnte. Meine Mutter war zwar ziemlich beschäftigt mit dem Wasser und dem Geschirr, aber sie hob den Kopf und sah
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