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Ich uebe das Sterben

Titel: Ich uebe das Sterben
Autoren: Gritt Liebing
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Schmerzen. Meine komplette rechte Seite ist aufgeschürft, die Radbekleidung hängt in Fetzen herunter. Mein rechter Ellbogen schmerzt, und ich kann den Kopf kaum drehen.
    Als ich die Notaufnahme der Klinik ungefähr zwei Stunden, viele Röntgenbilder, eine Halskrause und einen Arm in Gips später verlasse, bin ich nur wütend. Das Unternehmen Ironman Roth wird in diesem Moment zu Grabe getragen.
    Schlecht gelaunt begleite ich Harald am darauffolgenden Wochenende zum Marathon nach Hannover. Ich bin genervt von meinem Gips am Arm, von der Halskrause, von den Schmerzen und vor allem von den vielen quietschfidelen Läufern. Da hilft es auch nicht, dass wir kostenlos ein schönes und nobles Zimmer direkt im Start-Ziel-Bereich zur Verfügung gestellt bekommen.
    Am Tag des Marathons strahlt die Sonne vom Himmel. Harald und ich gehen gemeinsam zur Strecke. Da es sich um einen Rundkurs handelt, kann ich Harald nach etwa der Hälfte der Strecke vorbeilaufen sehen, ohne mich großartig vom Hotel wegbewegen zu müssen. Ich reiße mich zusammen, mache ihm durch lautes Rufen Mut.
    Während ich auf seine Ankunft im Ziel warte, drängt sich der Tod in mein Leben. Direkt vor meinen Augen fällt ein Mann nach dem Zieleinlauf um. Ärzte und Rettungssanitäter sind sofort zur Stelle und reanimieren ihn, indem sie ihm so lange Elektroschocks per Defibrillator verabreichen, bis sein Herz wieder schlägt. Als er in einem Rettungshubschrauber abtransportiert wird, sieht er leblos aus, und sein Gesicht ist schneeweiß. Später erfahre ich durch die Medienberichterstattung, dass er nicht überlebt hat. In diesem Moment hasse ich ihn, den Tod. Und er macht mir Angst.
    Diese Begegnung mit dem Tod macht mir die Endlichkeit meines eigenen Daseins auf erschreckende Art und Weise und sehr deutlich bewusst. Ich will leben, das Leben aufsaugen. Ich will keine Rücksicht auf meine Erkrankung nehmen.
    Genau aus diesem Grund mache ich schon wenig später, am letzten Wochenende im Mai, etwas total Verrücktes: Ich starte gemeinsam mit Harald bei den Deutschen Meisterschaften im Vierundzwanzig-Stunden-Lauf in Hamburg.
    Der Gips ist weg, aber mein Ellbogen und meine Halswirbelsäule sind noch nicht wieder richtig beweglich. Das spielt bei diesem einzigartigen Erlebnis jedoch überhaupt keine Rolle.
    Wir starten am Samstag um dreizehn Uhr auf dem ungefähr eineinhalb Kilometer langen Rundkurs. Dort drehen wir Runde um Runde, bei Regen und bei Sonnenschein, in dunkler Nacht und in der Morgendämmerung. Wir schlafen nicht, sondern setzen uns nur für eine halbe Stunde ins Auto, um dann mit steifen, schmerzenden Muskeln weiterzutraben.
    Natürlich läuft Harald viel schneller als ich, und wir laufen nur sporadisch zusammen. Aber selbst wenn wir nebeneinanderher laufen, reden wir nicht. Jeder ist mit sich selbst beschäftigt, jeder mit seinen Gedanken allein. Die Muskeln und Sehnen schmerzen. Die Füße sind voller Blasen. Die Nahrungs- und Getränkeaufnahme nach jeder Runde bereitet keine Freude mehr; sie ist vielmehr eine Pflicht, um nicht zu dehydrieren oder zu unterzuckern.
    Die Welt wird klein, winzig klein. Sie dreht sich in und um die eineinhalb Kilometer mitten in Hamburg. Hier gibt es für mich weder Ted noch verpasste Chancen, wie meinen Start beim Triathlon in Roth. Die Gedanken kreisen im Nichts – und genau das macht wohl auch den Reiz einer solchen sportlichen Herausforderung aus. Ich finde dabei zu mir selbst, weil ich mir selbst überlassen bin. Es ist wie Meditation. Die Welt außerhalb der Laufrunde erscheint unwirklich – und somit treten auch alle Probleme in den Hintergrund.
    Es ist schwer, jemandem das Erlebnis dieser vierundzwanzig Stunden nahezubringen, der nicht sportbegeistert ist. Wahrscheinlich erklären mich etwa neunzig Prozent der Bevölkerung für völlig verrückt, weil ich mich solch einer Tortur aussetze – und zwar ganz und gar freiwillig. Nicht nur das, ich bezahle sogar noch Startgeld, um mich zu quälen. Bei einer Laufveranstaltung habe ich einmal ein schönes Transparent gelesen: »Genieß es, du hast dafür bezahlt.« Ich genieße – und nicht nur, weil ich dafür bezahlt habe.
    Für mich ist es trotz Schmerzen ein wertvolles Erlebnis, an die Leistungsgrenzen von Körper und Geist zu gehen. Letztlich ist es ein Beweis dafür, dass die Psyche der Physis überlegen ist. Wenn der Körper zu versagen droht, bringt mich allein die Willenskraft weiter.
    Bei dem Hamburger Lauf schaffe ich es nicht nur, vierundzwanzig
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