Ich uebe das Sterben
Stunden auf den Beinen zu bleiben, sondern knacke auch die magische Einhundert-Kilometer-Grenze. Mit knapp über einhundertundeins gelaufenen Kilometern bin ich total zufrieden und glücklich – und sehr stolz auf meine Leistung.
Getragen von der Welle der Begeisterung dieses Lauferlebnisses gilt für mich für die kommenden Wochen nur ein Motto: Lauf!
Am 10. Juni starte ich gemeinsam mit Harald und seinem Sohn Lukas in Viernheim, wo wir eine Strecke über fünf Kilometer laufen und einen Pokal in der Familienwertung absahnen. Zur Belohnung gibt es Burger und Pommes.
Am 18. Juni – meinem Geburtstag – laufe ich zehn Kilometer in Mülheim an der Ruhr. Die Strecke ist sehr schön und führt durch den Wald. Harald läuft die ganze Zeit direkt an meiner Seite. Ich pruste wie ein Walross, kann trotz kühler Getränke und nasser Schwämme die Hitze kaum ertragen und brauche eine Stunde und vier Minuten für eine Strecke, die ich doch schon mal in knapp fünfzig Minuten zurücklegen konnte. Dennoch bin ich froh, auch diesen Lauf zu bewältigen. Danach geht es direkt hinein ins Vergnügen: Wir besuchen Warner Bros. Movie World, einen Freizeitpark ganz in der Nähe. Es ist ein rundum gelungener Geburtstag.
Am 25. Juni gehe ich in Stuttgart über die Halbmarathondistanz auf die Strecke. Um diesen Lauf zu beschreiben, reichen mir zwei Wörter: Qual und Verzweiflung. Schon auf den ersten Kilometern schwitze ich wie verrückt, obwohl der Himmel bedeckt und es für die Jahreszeit sogar zu kühl ist. Immer wieder muss ich mich selbst motivieren und rede mir gut zu: »Weiter, immer nur einen Fuß vor den anderen.« Der Zieleinlauf ist im Stadion. Von der eigentlich tollen Atmosphäre, die bei solchen Anlässen immer herrscht, bekomme ich nichts mit. Ich stolpere über die Ziellinie, falle völlig fertig auf den Boden und weine. Eine Mischung aus Tränen der Enttäuschung, denn meine Zeit liegt bei zwei Stunden und achtundzwanzig Minuten, und Tränen der Verzweiflung, denn mein Körper will einfach nicht mehr so, wie ich es bisher gewohnt war. Harald schafft es jedoch, mich zu beruhigen und meine Tränen zu trocknen. Nach dem Duschen trage ich dann doch mit einem Lächeln das Finisher-T-Shirt.
Selbst dieses Ereignis kann mich nicht vom Laufen abhalten: Mitte Juli schon schließe ich mich einmal mehr Harald an und starte beim Nachtmarathon in Marburg. Harald wählt die lange Strecke – einhundert Kilometer –, und ich mache mich nach dem Startschuss im Marburger Stadion für die knapp über zweiundvierzig Kilometer auf den Weg.
Diesmal ist es wieder ein Lauferlebnis der besonderen Art: Ich versinke in mir selbst. Nach den ersten Kilometern durch die Stadt führt die Strecke hinaus in die Dunkelheit, durch die Felder, entlang der Lahn, durch kleine Ortschaften. Die Verpflegungsstände leuchten schon von Weitem wie kleine Oasen im Dunkel der Nacht. Sie laden ein, um dort zu verweilen – bei gut gelaunten Menschen, Musik, Essen und Trinken.
Doch es zieht mich weiter, in die Einsamkeit meines Laufes zurück. Leuchtstäbe als Wegweiser geben ein warmes, wenn auch ein wenig unheimliches Licht ab. Glimmende Punkte in der dunklen Nacht. Ich genieße jeden Schritt dieses Marathons. Es spielt überhaupt keine Rolle, dass ich nach fast sechs Stunden nur noch zwei Menschen hinter mir habe. Als ich das Ziel im schwach beleuchteten Stadion erreiche, hängt mir eine freundliche Frau eine Medaille um den Hals, und ich fühle mich großartig.
Von diesem Lauf nehme ich so viel Energie mit, dass ich in der nächsten Zeit nicht einmal mehr an Ted denke. Aber er macht es mir auch leicht, ihn zu vergessen, denn er gibt weiterhin kein Lebenszeichen von sich.
Das normale Leben – mit Ted im Gepäck
I ch beginne zu vergessen. Zu vergessen, dass ich nicht so gesund bin wie andere. Zu vergessen, dass ich einen Defibrillator in mir trage. Zu vergessen, wie nahe ich dem Tod bin.
Zu normal gestaltet sich mein Leben: Ich arbeite, und es macht mir Spaß. Ich trainiere Laufen, Radfahren und Schwimmen. Warum auch nicht? Manchmal huscht sogar der Gedanke durch meinen Kopf, dass ich vielleicht doch irgendwann mal wieder hinter dem Steuer eines Fahrzeuges sitze.
Am ersten Septemberwochenende verschlägt es Harald und mich ins niederländische Almere. Dort findet ein Vierundzwanzig-Stunden-Lauf statt. Harald startet, und ich stehe ihm, so gut es eben geht, zur Seite.
Die Menschen in diesem schönen, kleinen Ort sind nett, hilfsbereit und schaffen eine
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