Ich uebe das Sterben
rät er mir, meine Blutgerinnung kontrollieren zu lassen. Obwohl ich noch nicht ganz wach bin, behalte ich seine Worte im Hinterkopf.
Eine Stunde später bin ich wieder in meinem normalen Zimmer. Ich trage schon meine eigenen Klamotten, habe meine Brille auf und war auf der Toilette. Ich bin einfach glücklich, dass ich die Operation hinter mich gebracht habe. Und auch Harald, der mich schon bald besucht, ist froh, mich in einem so guten Zustand vorzufinden.
Wir haben beide die große Hoffnung, dass bis zur nächsten Operation viel Zeit vergeht. Och soll durch eine neu entwickelte Batterie viel länger halten als seine Vorgänger Ted und Bob. Mindestens neun Jahre soll es bis zum nächsten Defi-Wechsel dauern.
Die nächsten beiden Tage in der Kerckhoff-Klinik vergehen schnell. Ich habe dort in den letzten Jahren so viel erlebt und einige der dunkelsten Momente meines Lebens verbracht. Aber nach fast neun Jahren gehören sowohl die Krankheit selbst als auch der Defi und die Klinik einfach zu meinem Leben.
Mit der Zeit verliert alles ein großes Stück des Schreckens, und die Krankheit regiert mein Leben nicht mehr ausschließlich. Ich nehme mir nicht nur Zeit für das Leben vor dem Tod, sondern auch für das Leben mit der Krankheit. Dabei steht deutlich das Leben – und nicht die Krankheit – im Vordergrund.
Am Entlassungstag stehen noch die üblichen Untersuchungen an. Dabei stellt der Stationsarzt ein »Strömungsgeräusch« an der rechten Halsseite fest. Er rät mir, einen Gefäßspezialisten aufzusuchen, damit er mich dahingehend genauer untersuchen kann.
Der Heilungsprozess verläuft gut. Och fühlt sich offensichtlich wohl bei mir – und ich mich mit ihm.
Allerdings habe ich immer wieder mit Schwindelanfällen zu kämpfen und Probleme mit der rechten Hand, die weniger beweglich als die linke und kälter als der Rest des Körpers ist. Das macht mir Sorgen.
Daher vereinbare ich Ende März einen Termin bei einem Facharzt für Angiographie – also einem Gefäßspezialisten –, wie mir der Stationsarzt der Kerckhoff-Klinik empfohlen hat.
In der Praxis angekommen, testet zunächst eine Ärztin, ob in allen Extremitäten der Blutfluss gleichmäßig funktioniert, und schreibt ein EKG .
An diesem Tag ist mein EKG tatsächlich spektakulär, was nicht immer der Fall ist. Die sogenannte QT -Zeit ist bei mir nicht anhaltend verlängert, aber an diesem Tag ist der Komplex extrem breit, und auch die für meinen Gendefekt typische ST-Streckenhebung sieht man auf dem EKG .
Mit dem Ausdruck meines EKG s entschwindet die Ärztin und kehrt wenige Minuten später mit zwei Kollegen im Schlepptau zurück. Sechs Augen starren mich staunend an. In diesem Moment kann ich erahnen, wie sich Tiere im Zoo fühlen müssen.
»Wow, Sie schreiben ja tolle EKG s«, sagt mir einer der Ärzte.
Was soll ich darauf sagen? Ja, super, wenn man einen Gendefekt hat! Oder: Ich weiß, das habe ich die ersten vierunddreißig Jahre meines Lebens geübt, bis ich es endlich so hinbekommen habe. Aber nein, ich schlucke meinen Ärger runter, nicke nur und lasse mich erst einmal zurück ins Wartezimmer bringen.
Als ich zur nächsten Untersuchung – eine Duplex-Sonographie, mit der die Geschwindigkeit des Bluts in den Gefäßen meines Halses gemessen wird – gebeten werde, hat auch dieser Arzt bereits mein EKG gesehen.
»Wahnsinn!«, sagt er mir ins Gesicht.
Wieder fehlen mir die Worte, denn mir fällt zu Wahnsinn nur ein, dass ich bald wahnsinnig werde. Ich komme mir vor wie ein Exot, den man bestaunen kann. Ich fühle mich nicht wie ein Jemand, sondern wie ein Etwas – eine personifizierte EKG -Kurve.
Ansonsten ist der Arzt aber freundlich und kompetent. Er erklärt mir am Monitor, was er bei der Duplex-Sonographie sieht, und stellt den Ton so laut, dass ich einen Eindruck erhalte, was der Arzt der Kerckhoff-Klinik mit Strömungsgeräusch meinte. Für mich hört es sich allerdings eher an wie ein Gewitter.
Danach muss ich wegen weiterer Untersuchungen in die benachbarte Praxis, in der Angiographien gemacht werden, wechseln. Dort ist auch erst mal Warten angesagt. Gut, dass ich Lesematerial, meinen MP 3-Player, etwas zu trinken und ein paar Knabbereien dabeihabe. Meine langjährige Erfahrung in Wartezimmern hat mich gelehrt, dass ich diese Notfallausrüstung immer mitnehme.
Als ich dann endlich in das Untersuchungszimmer zur Angiographie gerufen werde, ist es schon spät. Das Prozedere bei einer Angiographie ist dasselbe wie bei einer
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