Ich uebe das Sterben
meine Eltern ihre Hilfe an, aber sie wohnen etwa zweihundert Kilometer entfernt, und daher bin ich froh, wenn sie nicht extra anreisen müssen, um mir zur Seite zu stehen. Es ist jedoch gut zu wissen, dass sie sozusagen immer in den Startlöchern sitzen, falls es hart auf hart kommt. Familie und Freunde sind eben durch nichts zu ersetzen.
Nachdem Haralds Hand einigermaßen geheilt ist, vereinbare ich für Anfang Juni einen Termin wegen meiner arteriovenösen Fistel in der Universitätsklinik Frankfurt. Ich will eine zweite Meinung einholen.
Ich habe meine bisherigen Untersuchungsergebnisse dabei und hoffe, mir damit die eine oder andere Untersuchung und Zeit und Nerven zu sparen.
Es ist heiß, und die Luft im Wartebereich schlecht, aber die Menschen sind freundlich. Schon bei der Anmeldung werde ich mit einem Lächeln begrüßt, und die junge Frau entschuldigt sich bereits im Voraus, dass es einen Notfall gibt und ich deshalb mit einer längeren Wartezeit rechnen muss. Kein Problem für mich und meine Tasche mit der Notfallausrüstung fürs Wartezimmer. Ich vertiefe mich in ein Triathlonmagazin und werde schneller in ein Untersuchungszimmer gebeten, als erwartet.
Die Untersuchungsergebnisse, die ich mitgebracht habe, sind fast ausnahmslos unbrauchbar oder nicht aussagekräftig. Aus diesem Grund macht die Ärztin eine weitere Duplex-Sonographie von meinem Hals. Diesmal sind die Geräusche sogar noch heftiger als beim ersten Mal. Ein wahrer Gewittersturm tobt in meinem Hals. Das kann auf keinen Fall so bleiben. Außerdem ist sich die Ärztin sicher, dass die eiskalte Hand und der Schwindel auch mit der Fistel in Verbindung stehen.
Die Ärztin rät mir zu einer weiteren Angiographie. Ich bin davon wenig begeistert und will mir das erst mal durch den Kopf gehen lassen. Ich habe wenig Lust, im Sommer in der Klinik zu liegen. Zudem ist Anfang Juli Haralds Ironman in Zürich, und darauf freue ich mich schon sehr, auch wenn ich dort nur als Zuschauerin bin. Daher werde ich die empfohlene Angiographie in den Herbst schieben.
Ende Juni zeigt Och, wie er arbeitet. Ich bin morgens mit den Hunden unterwegs, als ich plötzlich mitten auf einem Gehweg liege, der keine zehn Häuser von unserer Wohnung entfernt ist.
Och gibt zweimal hintereinander seine einundvierzig Joule ab.
Die Hunde springen hektisch um mich und leider auch auf der Straße herum. Ich bin jedoch nicht in der Lage, sie zu rufen oder festzuhalten, da ich nicht aufstehen kann.
Den Blick, der sich mir bietet, vergesse ich nie. Wie eine riesige schmale Schlucht inmitten von Hochhäusern erscheint unsere Straße aus dieser Perspektive. Dabei sind hier nur dreigeschossige Wohnhäuser. Überall sind die Fenster geöffnet, aus denen sich Köpfe recken und neugierig auf mich herabblicken.
Später erfahre ich, dass ich laut geschrien habe: »Hilfe, ich bin tot!« Davon weiß ich allerdings nichts mehr.
Nach einer mir endlos erscheinenden Zeit setze ich mich auf und rufe die Hunde zu mir.
Ein junger Mann kommt angelaufen und fragt, ob er etwas für mich tun könne und ob er einen Krankenwagen rufen soll.
Meine Antwort entspricht dem Sauerstoffmangel in meinem Hirn, denn ich sage doch tatsächlich: »Nein, nein, das ist normal so.«
Der Mann zieht kopfschüttelnd von dannen.
Ich komme irgendwie auf die Beine, sammle die Hunde ein und schleiche in Zeitlupe die rund hundert Meter nach Hause. Die Blicke der neugierigen Fenstergucker verfolgen mich.
Zu Hause bemerke ich ein paar Prellungen am Arm, die ich mir zugezogen habe. Ich bin müde und schlapp. Die Hunde sind verängstigt – genau wie ich.
Ich bin mir nicht sicher, wie lange ich bewusstlos war und was genau passiert ist. Mir fehlt einfach ein Stück meiner Erinnerung.
An diesem Tag nimmt mich die Angst gefangen. Die Angst, dass den Hunden etwas passieren könnte, wenn ich das Sterben übe. Die Angst, mich schlimm zu verletzen, wenn ich ungebremst auf den Asphalt knalle. Die Angst, dass alle Menschen, die heute in meiner Straße auf mich heruntergesehen haben, mich für eine Drogen- oder Alkoholabhängige halten könnten. So ein Angstkarussell habe ich noch nicht erlebt. Meine Psyche ist einfach platt. Im Alltag merke ich das normalerweise nicht, oder ich verdränge es. Aber jetzt erkenne ich, dass meine Lebensgeister doch ziemlich müde sind. Sie sind in den vergangenen neun Jahren auch schwer gefordert worden.
In derselben Nacht bekomme ich noch mal eine von Och gewaffelt.
Doch für Angst und Schwäche
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