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Ich uebe das Sterben

Titel: Ich uebe das Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gritt Liebing
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verschluckt mich, denn es sind seit dem Start heute Morgen schon vierzehn Stunden vergangen. Auf der Strecke sind nicht mehr viele Athleten. Ich werde immer langsamer, aber ich komme vorwärts.
    Was hat Ralf gestern noch gesagt? Fünfzig Prozent eines Ironman-Wettkampfs werden im Kopf entschieden. Ich habe zu dem Zeitpunkt das Gefühl, dass nur noch mein Kopf, meine Willenskraft und mein Kampfgeist mich vorantreiben. Ich habe Angst davor, ins Ziel zu kommen, völlig übertrieben zu haben und zu sterben. Im Dunkeln lauert er, der Tod. Aber ich laufe ihm wieder einmal davon – zwar langsam, aber stetig, Schritt für Schritt.
    Als ich die Kilometermarke einundvierzig erreiche, sausen die Endorphine so gewaltig durch meinen Körper, dass ich plötzlich aufrecht rennen kann.
    Mit einem Lachen auf dem Gesicht klatsche ich Ralf ab, der an der Strecke steht, mich anfeuert und mir zuruft: »Genieß es! Es ist ganz allein dein Moment!«
    Die letzten Meter führen mich an der Uferpromenade entlang. Mein Blick schweift kurz auf den dunklen See, der im Mondschein glitzert.
    Dann biege ich um die Ecke und sehe das große rote Logo des Ironman.
    Auf einem blauen Teppich genieße ich jede Sekunde, während mir das Publikum von der gut gefüllten Zuschauertribüne aus zujubelt.
    Ich durchlaufe den Zielbogen.
    Geschafft! 226 Kilometer in fünfzehn Stunden und genau zwanzig Minuten.
    Meine Begleiter freuen sich mit mir und gratulieren mir zu dem erfolgreichen Wettkampf. Danach machen sie sich aber relativ schnell aus dem Staub, damit ich meinen Erfolg mit Harald genießen kann.
    Das Feuerwerk zur Feier aller Finisher des Ironman-Triathlons, das ich mir gemeinsam mit Harald ansehe, malt buntes Glück in den Nachthimmel. Ich bin frei und glücklich und stolz. Ich bin eine Ironlady – und niemand kann mir das nehmen!
    Mit der Finisher-Medaille auf dem Nachttisch schlafe ich in der folgenden Nacht tief und fest, und am nächsten Morgen geht es mir dank der Endorphine in meinem Körper bestens. Ein wenig Muskelkater in den Beinen, ein wenig Sonnenbrand auf den Schultern, ein riesengroßes Lächeln im Gesicht und ein Finisher-Shirt – das bin ich, die Ironlady.
    Alle Strapazen, Ängste und Entbehrungen haben sich mehr als gelohnt. Mich durchströmen Gefühle des Glücks, die ich nicht beschreiben kann. Ich habe das Unmögliche möglich gemacht.
    Wie war das noch? Wer nicht vom Fliegen träumt, dem wachsen keine Flügel …

Warten auf Och
    N ach dem Wettkampf trainiere ich regelmäßig weiter. Ich schwimme, radle und laufe – zwar ohne Plan, aber ich weiß, es tut mir gut.
    Bei jeder sportlichen Aktivität habe ich ein tolles Kopfkino: meine Teilnahme am Ironman. Wenn ich mich daran zurückerinnere, überkommt mich jedes Mal ein klein wenig »Ironlady feeling«. Dann läuft ein kalter Schauer über meinen Rücken, und ich fühle mich, als ob ich in genau diesem Moment die Ziellinie überquere. Dieser Wettkampf hat seinen festen Platz in meinem Buch der Erinnerungen.
    Es ist, als wäre ich durch das Unternehmen Ironman in Hochform. Ich fühle mich bestens, und Bob gibt keinen einzigen Stromstoß von sich.
    Mein metallischer Freund soll demnächst durch einen anderen ersetzt werden, denn seine Batterie ist recht schwach.
    Mein neues Aggregat wird noch flacher sein als Bob. Das finde ich super, denn ich bin ums Schlüsselbein herum relativ knochig, und je kleiner das Gerät ist, desto mehr Bewegungsfreiheit habe ich. Ganz davon abgesehen ist es für mich auch netter, wenn die merkwürdige Beule oberhalb meines linken Schlüsselbeins nicht gar so groß ist.
    Dank meiner guten Kontakte zur Firma Boston Scientific – wie die Firma Guidant inzwischen heißt – bekomme ich alle technischen Details schon im Vorfeld mitgeteilt. Das Gerät reagiert schneller und gibt zehn Joule mehr an Energie ab. Davon verspreche ich mir einiges: weniger Sauerstoffmangel und – damit verbunden – schnellere Regeneration. Aber der Teligen – so heißt das neue Gerät – wird erst Ende des Jahres beziehungsweise Anfang 2008 bei mir eingesetzt werden können. Da habe ich noch Zeit für die Namenssuche – und genug Zeit, mich von der Klinik fernzuhalten.
    Mitte August sorgt meine Freundin Tina für eine tolle Überraschung. Sie hat spontan beschlossen, mal wieder mit ihrem Wohnwagen an den Titisee zu fahren – und ich darf sie begleiten. Ich freue mich riesig. Mit Tina zu verreisen ist herrlich entspannend. Alles ist völlig unkompliziert und stressfrei, und

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