Ich uebe das Sterben
wir lieben beide die Natur.
Sechs sehr verregnete Tage verbringen Tina, Basti und ich am Titisee. Da keiner von uns aus Zucker ist, stört uns der Regen nur wenig. Wir grillen unter dem Regenschirm, ich laufe auf den Feldberg, wir wandern bei strömendem Regen.
Außerdem lasse ich es mir selbst bei Außentemperaturen um die zwölf Grad und Wassertemperaturen um die siebzehn Grad nicht nehmen, den Neopren-Anzug überzustreifen und eine Runde im See zu schwimmen. Da sind selbst die Enten erstaunt und quaken aufgeregt. Ich glaube, man muss schon ein bisschen verrückt sein, um so etwas zu tun. Aber ich kann nicht tagelang an einem See campen, ohne wenigstens einmal in ihm geschwommen zu sein.
Kaum bin ich zurück in Darmstadt, steht schon die nächste Reise an. Harald und mein Paps starten am kommenden Wochenende beim Duathlon in Zofingen. Beim Duathlon verbindet man zwei Sportarten: Zunächst läuft man, dann steht Radfahren auf dem Plan, bevor man noch mal läuft.
Den Wettkampf möchte ich mir natürlich auf keinen Fall entgehen lassen. Mit einer winzig kleinen Träne im Augenwinkel feuere ich die beiden an.
Gerne wäre ich auch hier an den Start gegangen, aber der Ironman ist gerade mal sieben Wochen her, und mein Körper – vor allem mein Herz-Kreislauf-System – braucht dringend noch ein Schonprogramm. Und manchmal bin selbst ich kein Dickschädel und höre auf den Rat meiner Ärzte.
Angestachelt vom Duathlon nehme ich Kurs auf ein neues Ziel: den Frankfurt Marathon. Nach Rücksprache mit meinen Ärzten und meinem Trainer Ralf nehme ich mein kontrolliertes Training langsam wieder auf, um an diesem Wettkampf teilzunehmen.
Mit diesem Ziel vor Augen habe ich das Gefühl, dass mein Leben plötzlich aufgewertet wird – und somit auch ich selbst. Ich hadere oft damit, dass ich nicht so viel leiste wie andere Menschen und keinem geregelten Tagesablauf – und damit auch keiner Arbeit – nachgehen kann, weil immer wieder der Herzrhythmus alle Pläne durchkreuzt.
In solchen Momenten fühle ich mich nutzlos und schäme mich. Dann mag ich gar nicht vor die Türe gehen – aus Angst, man könnte mit dem Finger auf mich zeigen und sagen: »Schau mal, da ist wieder die Faule, die Simulantin, die Sozialschmarotzerin!« Oft genug bin ich schon so betitelt worden. Hätte ich die Hunde und den Sport nicht, würde ich mich wahrscheinlich zu Hause verkriechen.
Es fällt mir auch sehr schwer, mich mit Freunden zu treffen, die von ihrer Arbeit, von ihrem Studium, von all ihren Lebensplänen erzählen. Ich bin zwar nicht neidisch, aber im Vergleich mit ihnen fühle ich mich nur immer so klein und als Versagerin, die nichts aus ihrem Leben macht. Gestrandet wie ein Fisch auf dem Trockenen.
Der Trainingsplan für den Marathon lenkt mich von allen negativen Gedanken ab. Einmal mehr ist es der Ausdauersport, der mein Leben bereichert. Und einmal mehr sind auch meine Ärzte der Meinung, dass Sport für mich mehr als nur ein Ventil ist.
Am 28. Oktober starte ich beim Frankfurt Marathon. Ich bin ziemlich entspannt, denn mein großes Finish – das vom Ironman – habe ich ja schon erreicht. Es ist ein gutes Gefühl, so locker an den Start zu gehen. Ein kleines Ziel habe ich mir trotzdem gesetzt: Ich würde gerne eine Zeit von unter vier Stunden und dreißig Minuten laufen.
Nach einem Wettkampf mit Höhen und einer langen Tiefe zwischen Kilometer zweiundzwanzig und neununddreißig erreiche ich nach vier Stunden und neunzehn Minuten den roten Teppich und überquere die Ziellinie.
Harald wartet dort auf mich, und wir sind beide in bester Stimmung.
Von meiner Klinik und der Firma Boston Scientific erhalte ich die Nachricht, dass ich noch bis Februar auf meinen neuen Defi warten muss. Das ist gar nicht so schlecht, denn so kann ich zunächst noch ganz entspannt Weihnachten und Silvester feiern.
Außerdem habe ich noch mehr Zeit, um mir einen Namen für Bobs Nachfolger zu überlegen. Diesmal soll es unbedingt ein Name mit einem tieferen Sinn sein. Mir ist mehr als je zuvor bewusst, dass ich ohne Defi keinen Ironman hätte machen können, weil ich ohne ihn sicherlich nicht mehr am Leben wäre. Der Defi ist eine Art Schutzengel für mich. Mit diesem Gedanken im Hinterkopf finde ich auch den neuen Namen: Och. Och ist ein Sonnenengel, der den Menschen perfekte Gesundheit schenkt und als Engel der Geburt fungiert. Das passt doch perfekt …
Um die Wartezeit auf Och ein wenig zu verkürzen, lenke ich mich ab und treffe mich mit Freunden
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