Ich uebe das Sterben
ist kein Platz, denn am Wochenende kommt mein Paps angereist, um gemeinsam mit Harald bei seinem ersten Triathlon zu starten. Da muss ich kochen und anfeuern und kann nicht müde und schlapp sein.
Wenn ich eines besonders gut kann, dann ist es tarnen und täuschen. Das hat nichts damit zu tun, dass ich Menschen hinters Licht führen möchte, sondern es ist vielmehr eine Art Selbstschutz. Stärke demonstrieren, wenn ich schwach bin. Tränen gegen ein Lachen tauschen. Immer einen Schritt weiter gehen, niemals auf der Stelle treten. Nur so kann ich mit meiner Krankheit klarkommen.
Harald und mein Paps absolvieren einen tollen Wettkampf, und ich funktioniere nach Plan. Meine Freude beim Zieleinlauf der beiden ist ehrlich und aufrichtig. Das Gute-Laune-Gesicht, das ich den Tag über aufgesetzt habe, ist jedoch eine Maskerade. Eine Maske, die ab und zu notwendig ist, um einfach mit dabei sein zu können. Und es hilft: Meinen Paps und auch Harald so glücklich zu sehen macht auch mich glücklich. Ich vergesse für ein paar Stunden das Sterben und Och.
Am nächsten Tag chauffiert meine Freundin Nele mich in die Kerckhoff-Klinik, die ich in letzter Zeit gemieden habe, weil ich einfach keine Krankenhausluft atmen wollte.
Aber nachdem Och nun dreimal seine Arbeit getan hat, erachte ich es doch für notwendig, nachschauen zu lassen, ob er diese gut gemacht hat. Ich habe zwar eigentlich keine Zweifel daran, aber es dann schwarz auf weiß zu sehen kann nicht schaden.
Ich habe Och zu Recht vertraut. Perfektes Timing, perfekte Arbeit.
Dennoch sind die Ärzte besorgt und wollen mir etwas Gutes tun. Daher bekomme ich eine Infusion, um den doch sehr geschwächten Körper ein wenig aufzubauen. Nele leistet mir Gesellschaft, während Tröpfchen für Tröpfchen der Flüssigkeit in meinen Körper gelangt.
Es ist schön, dass Nele da ist, denn sie lenkt mich ab, lässt mich vergessen, was ich in den letzten Tagen er- und überlebt habe. Eine solche Freundin zu haben tut wirklich gut.
Aber dann falle ich wieder zurück in ein Loch. Meine Psyche ist sehr mitgenommen. Es fühlt sich zeitweise an, als ob all die Nahtoderlebnisse der letzten neun Jahre geballt in meiner Erinnerung lebendig würden.
Meine Hausärztin hatte mir schon vor längerer Zeit einen Gesprächstherapeuten empfohlen, und dieser Empfehlung folge ich nun. Ich komme mit der Situation langsam nicht mehr klar. Freunde und Familie können mir auch nicht helfen. Ein Profi muss ran. Es ist nicht leicht für mich, mir dies einzugestehen. Es ist ein Eingeständnis von Schwäche, und die zeige ich nicht gerne.
Genauso schwer ist es für mich, dem Therapeuten mein Problem klarzumachen. Er kann auch nicht viel mehr tun als zuhören. Aber das macht er sehr gut.
Eigentlich hatte ich nicht viel von einer Therapie erwartet. Wie soll man ständige Todesnähe therapieren? Welche Tipps soll man jemandem geben, der nicht weiß, ob er überhaupt eine Zukunftsperspektive hat, und der deshalb Angst hat, Pläne zu machen? Aber ich stelle fest, dass mir die Gespräche guttun.
Ich habe eine Erkrankung, mit der ich fast immer klarkomme. Und ich möchte zu keinem Zeitpunkt mein Leben mit demjenigen eines anderen Menschen tauschen. Wenn ich einen Wunsch frei hätte, würde ich gerne für einen Tag aus meinem Körper aussteigen, Urlaub von meinem Ich machen, einen Tag ohne Angst erleben. Das wäre toll. Und ich hätte manchmal gerne mehr Geld, was sich sehr oberflächlich anhört. Aber es wäre einfach toll, wenn ich mir eine Pizza oder einen Kinobesuch oder einen Friseurbesuch gönnen könnte, ohne sofort ein schlechtes Gewissen zu bekommen, weil ich es mir eigentlich nicht leisten kann. Ich würde auch gerne einfach einmal ganz spontan eine Reise in den sonnigen Süden machen. Auch wenn sich das alles sehr materialistisch anhört, ist es normal, solche Wünsche zu haben. In diesem Punkt, so denke ich, unterscheide ich mich überhaupt nicht von allen anderen.
Da Ablenkung immer noch die beste Methode ist, fahre ich mit Harald zum Ironman in die Schweiz.
Bei nur dreizehn Grad und strömendem Regen absolviert er die 226 Kilometer Schwimmen, Radfahren und Laufen. Am Ende des Tages ist er ein Ironman.
Allen Widrigkeiten zum Trotz hat er durchgehalten und sein Ziel erreicht. Der Unfall und der dadurch bedingte Trainingsrückstand und auch das miese Wetter während des Wettkampfes haben seinen Kampfgeist nur verstärkt.
Unser Freund Andy schickt eine Glückwunsch- SMS mit der Anrede: »Hallo,
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