Ich uebe das Sterben
Professor als auch ich sind sprachlos.
Ich hadere wieder einmal mit dem Schicksal, bin wütend, frustriert und zerstört. Die tränenreiche Rückfahrt nach Hause endet in einem völligen Zusammenbruch, als ich endlich daheim bin.
Harald schafft es, mich abends etwas aufzumuntern. Ich habe keine Ahnung, wie er es immer wieder macht, mich nach jeder Niederlage wieder aufzurichten. Auf jeden Fall bewundere ich ihn dafür, wie er mit all meinen Krankengeschichten umgeht. Er macht kein Drama um Diagnosen, sondern stellt sich mit mir gemeinsam in den Wind, egal, wie stark der weht. Und er hat denselben schwarzen Humor wie ich. Ich werde nie vergessen, wie er einmal in die Tierarztpraxis kam, wo ich mit Christian stand, und ganz trocken sagte: »Meine Güte, du siehst heute aus wie die Maske aus dem Film Scream .« Wir haben alle drei Tränen gelacht. Diese doch makabere Art, mit der Todesnähe umzugehen, ist unsere Geheimwaffe. Auf Außenstehende wirkt das manchmal vielleicht unsensibel, aber es ist genau das, was ich brauche.
Zum Glück soll der Hals nicht noch mal konservativ geöffnet werden. Diesmal wollen die Ärzte versuchen, per Katheter über die Leiste die arteriovenöse Fistel mit Coils zu verschließen. Das hört sich alles ziemlich unspektakulär für mich an.
Am 6. Oktober bin ich wieder im zehnten Stockwerk des Hauptgebäudes der Universitätsklinik Frankfurt. Mein Zimmer liegt genau neben dem vom letzten Mal, und ich kann wieder den tollen Blick aus dem Fenster genießen. Fast schon vertraut erscheint mir das alles. Natürlich nicht so wie die Kerckhoff-Klinik, aber dennoch ist auch die Universitätsklinik Frankfurt inzwischen ein kleines Stückchen Heimat für mich geworden. So schnell wollte ich hier eigentlich nicht so vertraut werden.
Harald hat den Nachmittag frei und verkürzt mir das Warten auf die Angiographie am nächsten Morgen. Ich bin guter Dinge und sehe mich am übernächsten Tag die Klinik verlassen – ohne Schwindel und ohne Fistel, die Probleme bereitet.
Die Angiographie an sich verläuft aus meiner Sicht gut. Die Punktion der linken Leiste ist unkompliziert. Das Ergebnis ist allerdings für alle Beteiligten ärgerlich: Die arteriovenöse Fistel kann nicht verschlossen werden, weil die richtigen Coils nicht vorrätig sind.
Keiner der Ärzte hat bedacht, dass die Coils, die üblicherweise benutzt werden, bei mir nicht verwendet werden können, weil diese per Strom vom Führungskatheter abgelöst werden, wenn sie am richtigen Platz sind. Das allerdings würde Och veranlassen, viel unnützen Strom durch meinen Körper fließen zu lassen.
Also werde ich unverrichteter Dinge wieder auf meine Station gebracht, und die Coils, die manuell abzulösen sind, werden bestellt.
Weil ich die Zeit, in der ich auf die Bestellung warte, an einem besseren Ort verbringen kann als in einem Krankenhaus, fahre ich für zwei Nächte nach Hause.
In der zweiten Nacht bringen mich Ochs einundvierzig Joule morgens um kurz nach vier Uhr von null auf hundert. Danach bin ich so kaputt, dass ich es kaum schaffe, aufzustehen und mich anzuziehen, um mit Harald in die Universitätsklinik Frankfurt zu fahren.
Als wir um kurz vor sechs Uhr morgens dort eintreffen, friere ich, und ich bin müde und leer. Keine gute Basis für die bevorstehende erneute Angiographie.
Doch zunächst steht die Substitution für meine Blutgerinnung an. Das Medikament ist zähflüssig und findet nur langsam den Weg in meine Venen. Wir brauchen vier Anläufe – das bedeutet vier Einstichlöcher in meinem Arm –, bis die notwendige Flüssigkeit endlich in meinem Körper ist.
Mit dem Kliniktransport werde ich zum Bereich der Angiographie gefahren. Das macht Sinn, denn zu Fuß wäre ich gut zwanzig Minuten auf dem weitläufigen Gelände unterwegs gewesen.
Dort angekommen, wird meine Geduld einmal mehr auf die Probe gestellt. Ein Notfall verhindert, dass ich – wie geplant – um acht Uhr drankomme. Während ich warte, werde ich immer nervöser. Ich tigere auf und ab. Die Gedanken kreisen um Och und die Frage, ob er sich wohl während der Angiographie zurückhält.
Als ich dann gegen zehn Uhr endlich in den Untersuchungsraum gebeten werde, liegen meine Nerven blank. Ich bin fertig. Und der Tod lauert heute mal wieder wie ein Schatten bei mir.
Ich atme tief ein und aus und konzentriere mich darauf, ein schönes Erlebnis aus meinem Buch hervorzuholen. Aber heute gelingt mir das nicht. Sendepause im Kopfkino. Ich bin total angespannt, und
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