Ich uebe das Sterben
die Schuhe besohlen könnte, und meine Trainingseinheiten sind kurz. Aber mit viel Selbstdisziplin, nach vorne gerichtetem Blick und oft rücksichtslos gegen mich selbst verfolge ich mein sportliches Ziel.
Rücksichtslos ist auch Och. Mitte März versorgt er mich gleich zweimal und kurz hintereinander mit Stromstößen. Der Mann in Schwarz ist wieder präsenter als zuvor.
Trotzig ziehe ich meine Laufschuhe fünf Tage später wieder an und laufe los, um dann umgehend die Quittung von Och zu bekommen.
Es ist wirklich, als laufe ich dem Tod davon. Denn was sich zu der Zeit abspielt, ist nicht normal. Einmal laufen, zweimal einen Stromschlag von Och bekommen. Es erscheint mir wie ein Kräftemessen, ein irrsinniger Zweikampf. Ich gebe jedoch freiwillig nicht auf, denn dann hätte die Krankheit gewonnen. Auch Och ist hartnäckig und zeigt mir seine ganze Gewalt. Wenn ich laufe, fühle ich mich frei und glücklich, und dafür nehme ich die vielen Volt in meinem Körper in Kauf.
Ich habe Angst, dass der Mann in Schwarz mich endgültig erwischt, wenn ich jetzt nachgebe. Er spielt sein Spiel, und die Regeln bestimmt er. Mir bleibt nur mein unbändiger Lebenswille. Es ist kräftezehrend. Aber ich weiß, irgendwann habe ich den Tod wieder abgeschüttelt, und er lässt von mir ab, verfolgt mich erst einmal nicht mehr. Ich muss nur willensstark genug sein. Meine Stärke ist der Tod des Todes.
Ostermontag gehe ich bei einem kleinen Wettkampf im nahegelegenen Jügesheim über eine Strecke von zehn Kilometern an den Start. Es ist egal, dass ich für die Strecke mehr als eine Stunde benötige. Nur das Ankommen zählt.
Dieses kleine Erfolgserlebnis stärkt mich innerlich. Ich laufe weiter. Ich werde schneller, und die Einheiten werden länger.
Der schwarze Mann ist mir allerdings immer noch dicht auf den Fersen. Aber den wehrt Och ab. Ich vertraue ihm und überlasse ihm den Kampf.
Harald hat eine tolle Idee: Es gibt eine Laufserie im Rhein-Main-Gebiet, die fast jeden Sonntag einen Lauf über zehn Kilometer bietet. Gut für mich, weil ich es genieße, Wettkampfluft zu schnuppern, und gut für Harald, weil er die Läufe zur Vorbereitung für den Ultra-Trail du Mont Blanc im August nutzen kann.
Zunächst reise ich jedoch im Mai zum sogenannten Zoolauf nach Duisburg. Das ist ein Rundkurs mitten durch das Zoogelände über insgesamt ungefähr elf Kilometer, die sich zwei Läufer teilen. Ich laufe mit Kay für die Firma Polar. Harald kann mich leider nicht begleiten, weil er einen anderen Termin hat.
Emotional gesehen ist es eines der schönsten Lauferlebnisse, die ich je hatte. Ich liebe nun mal Tiere, und wenn am Start ein Elefant steht und ich an Tigern, Schildkröten und Wölfen vorbeilaufe, ist es ein ganz besonderes Gefühl. Sogar die Startnummer ist im Leopardenlook gestaltet, was mir sehr gut gefällt.
Kay und ich sind nicht schnell, aber wir haben Spaß. Mich stört es nicht, dass es in Strömen regnet; für den Veranstalter ist es jedoch schade. Wetterbedingt erscheinen nicht so viele Läufer, und das wiederum bringt weniger Startgeld ein, das komplett für die Zootiere bestimmt ist.
Nach dem Lauf fahre ich zu Haralds Mama, wo ich zwei Tage verbringe, bis Harald mich auf dem Rückweg seiner Geschäftsreise abholt. Ich genieße die nette Gesellschaft, leckeres Essen und denke nicht an Och.
Aber der Tod ist heimtückisch und lauert oft an den Orten, an denen man ihn am wenigsten erwartet.
Ohne Vorwarnung liege ich plötzlich auf der Steintreppe direkt vor der Wohnungstür von Haralds Mama. Ich japse und schreie und bin völlig orientierungslos. Selbst Haralds Mama kann ich in dem Moment, in dem ich das Bewusstsein wiedererlange, erst einmal nicht einsortieren.
Ich bin psychisch am Ende. So stark ich bei all den Schockabgaben seit Beginn meines Lauftrainings im März war, so schwach falle ich jetzt in mir zusammen. Der Tod klebt noch an mir. Ich schüttle mich, als wolle ich den Mann in Schwarz loswerden, doch seine Hand bleibt auf meiner Schulter liegen. Kalt läuft es mir den Rücken hinunter. Es fällt mir schwer, mich wieder einzukriegen.
Mitte Juni erhalte ich erneut eine Einladung von Boston Scientific zum Launch des Telemonitoring Systems Latitude in Berlin. Ich soll dort einen etwa zwanzig Minuten langen Vortrag halten, etwas aus meinem Leben mit den Defis erzählen und von den kleinen und größeren Hürden, die ich seit der Erkrankung schon genommen habe. Letztlich geht es darum, dem Produkt Leben
Weitere Kostenlose Bücher