Ich uebe das Sterben
Läufer, die sich wie Harald für dieses einzigartige Lauferlebnis qualifiziert haben. Das kleine Örtchen am Fuße des gigantischen Gletschers steht ganz im Zeichen der rund 2200 Starter und ihrer Begleiter. Es gibt kaum einen, den nicht das Berglauffieber gepackt hat.
Der Lauf hat es in sich, denn die Athleten werden den Mont Blanc umrunden. Das bedeutet 166 Kilometer, über neuntausend Höhenmeter im Anstieg – und das innerhalb von maximal sechsundvierzig Stunden.
Am Freitagabend versammelt sich um achtzehn Uhr dreißig das bunte Feld der Einzelkämpfer, die alle nur das Ziel vor Augen haben, wieder wohlbehalten in Chamonix anzukommen und das wohlverdiente Finisher-Geschenk in Empfang zu nehmen.
Die Stimmung ist unglaublich, und ich habe Gänsehaut, als sich die Menschenmasse vor der Kulisse des Mont Blanc bei Glockengeläut in Bewegung setzt.
Damit ich verfolgen kann, wo Harald sich ungefähr befindet, habe ich mir einen SMS -Service für mein Mobiltelefon bestellt. Wenn alles funktioniert, sollte ich an jedem Kontrollpunkt eine Nachricht erhalten. Die nächsten fünfundvierzig Stunden und fünfzehn Minuten verbringe ich fast nur damit, angestrengt auf mein Handy zu starren und zu hoffen, dass bald wieder eine Nachricht kommt. Ich finde kaum Schlaf. Aber im Gegensatz zu Harald und den vielen anderen Läufern geht es mir gut. Schließlich laufen sie die anstrengende Strecke und schlafen zwei Tage und Nächte überhaupt nicht. Das ist schon eine unvorstellbare Leistung.
Als Harald über die Ziellinie läuft, laufen mir die Tränen herunter. Es ist ein Moment für das Buch der Erinnerungen, der mir immer wieder beweist, welche tiefe Verbindung Harald und ich haben. Ich habe Harald noch nie so glücklich gesehen, und dieses Glück mit ihm zu teilen wird einer dieser Augenblicke sein, die uns auf ewig miteinander verbinden.
Wir treten eine ziemlich überstürzte Rückreise mit einem Zwischenstopp bei unserem Freund Albrecht in der Nähe von Freiburg an. Harald muss schon zwei Tage später zu einer Messe nach Friedrichshafen. Von dort aus wird er am Donnerstag direkt nach Oberstdorf, dem Startpunkt für den Transalpine-Run, anreisen.
Ich bin den ganzen Mittwoch damit beschäftigt, das Equipment für den Transalpine-Run zusammenzutragen. Für Harald ist das kein Problem, er hat Erfahrung. Jetzt fehlt er hier in meinem totalen Chaos. Ich packe ein und aus und um.
Unausgeschlafen und total aufgeregt setze ich mich am nächsten Tag mit Tina ins Auto, um nach Oberstdorf aufzubrechen.
Die Reise endet nach ungefähr sechzig Kilometern in einer Baustelle auf der Autobahn. Das Auto bleibt einfach stehen und wir mit ihm. Panik breitet sich in meinem Kopf aus. Ist das ein Zeichen? Riskiere ich zu viel? Will mich jemand – im wahrsten Sinne des Wortes – ausbremsen?
Glücklicherweise behält Tina einen kühlen Kopf, und vier Stunden später starten wir einen neuen Versuch, nach Oberstdorf zu fahren. Nun sitzen wir im Auto von ihrem Papa Ernst, das er uns kurzfristig zur Verfügung gestellt hat.
Diesmal haben wir mehr Glück.
Beim Einbruch der Dunkelheit, strömendem Regen und Temperaturen um die fünf Grad erreichen wir Oberstdorf. Das Hotelzimmer ist kalt und dunkel und das Personal unfreundlich.
Alles in allem ist das kein guter Start. Tränen laufen über meine Wangen, zu groß war und ist die Anspannung. Ich habe Hals- und Kopfschmerzen, ich friere und fühle mich kränklich. Am liebsten möchte ich mich in ein Loch verkriechen. Harald und Tina tun ihr Bestes, um mich wieder einigermaßen in die Spur zu bringen, doch so wirklich gelingt es nicht einmal den beiden.
Nach einer ziemlich durchwachsenen Nacht ist der morgendliche Ausblick aus dem Fenster nicht gerade motivierend. Es gießt wie aus Eimern, und dicke Nebelschwaden lassen nur erahnen, dass hier irgendwo Berge sein könnten.
Gemeinsam mit Harald und Tina mache ich mich auf den Weg ins Oberstdorf Haus, um unsere Startunterlagen abzuholen. Diesmal bin ich nicht nur Haralds Begleitung, sondern selbst eine von den Wahnsinnigen, die sich auf den Weg von Oberstdorf nach Latsch machen wollen. Ich kann es noch gar nicht glauben und bin aufgeregt. Völlig realitätsfremd kommt mir alles vor.
Bei der Startnummernausgabe treffen wir lauter Bekannte; immerhin läuft Harald hier zum vierten Mal mit. Wir kennen das gesamte Team von Plan B, das dieses Event veranstaltet. Uta und Heini, die Geschäftsführer von Plan B, fallen uns zur Begrüßung um den Hals. Sie
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