Ich uebe das Sterben
Bett. Da ich nach diesem anstrengenden Tag nun endlich zur Ruhe kommen kann, falle ich in mich zusammen. Die Tränen rollen, und ich bin mir sicher, dass ich die morgige Etappe nicht im Zeitlimit schaffen kann.
Baldrian und aufmunternde Worte von Harald und Tina sorgen dafür, dass ich trotzdem meine Klamotten für den nächsten Tag aus der Tasche krame und die schlammigen Schuhe abbürste und trocken föhne.
Der Blick auf den Streckenplan lässt uns nicht gerade hoffen, dass wir die morgige Etappe bewältigen können, aber wir beschließen, es auf jeden Fall zu versuchen. Es geht nach Sankt Anton. Dort zu Fuß anzukommen ist mein Ziel. Und meine Ziele verfolge ich immer – egal, wie absurd sie manchmal erscheinen.
Am nächsten Morgen zeigt das Thermometer eiskalte drei Grad. Da hilft nur eins: warme Kleidung. Vor allem ich bin eingemummelt, als bräche ich zu einer Nordpolexpedition auf.
Harald hat heute einen neuen Plan: Wir wollen nicht wieder als Letzte starten, sondern uns im hinteren Drittel platzieren. Aus diesem Grund passieren wir relativ früh das Check-in für die Startbox.
Während der Transalpine-Run-Song durch die Morgenluft tönt, pelle ich mich aus zwei meiner Jacken und lege meine dicke Mütze ab. Als Highway to Hell gespielt wird, ist mir schlecht. Meine Zweifel verdrängen meinen Optimismus.
Doch bevor ich einen Rückzieher machen kann, geht es los in Richtung Sankt Anton. Wir joggen mit der Masse. Wieder verlassen wir nach ein paar Metern den Ort und laufen auf einem Steig. Es ist nicht mehr ganz so rutschig wie gestern, aber es geht direkt sehr steil nach oben.
Um den ersten Kontrollpunkt zu erreichen, bleiben uns zwei Stunden. In dieser Zeit müssen wir den Rüfikopf erklimmen. Die Strecke ist zwar nur sechs Kilometer lang, aber auf dieser relativ kurzen Distanz sind rund tausend Höhenmeter zu bewältigen.
Ich gebe den Takt vor, laufe vor Harald her. Das haben wir so vereinbart, und das ist auch sinnvoll, denn der Schwächere läuft in der Regel vorne.
Als wir eine gute Gruppe vor uns haben, hängen wir uns an sie dran. Ich versuche, nie den Kontakt zu ihnen abreißen zu lassen. Das gelingt mir zu meinem eigenen Erstaunen auch recht gut und baut mich auf.
Plötzlich wird unser Weg steinig, und wir müssen uns konzentrieren, damit kein Schritt danebengeht und zu einem frühen verletzungsbedingten Aus führt. Einen Blick für die Schönheit der Landschaft habe ich hier nicht übrig.
Nach einer Stunde und vierzig Minuten erreichen Harald und ich die Verpflegungsstelle. Zwanzig Minuten bleiben uns, um ein bisschen zu verweilen. Das tut gut. Angesichts der vielen anderen Läufer, die uns am Verpflegungsstand begegnen, liegen wir sehr gut im Rennen.
Nach der Pause geht es ein paar Höhenmeter bergab, doch schon bald wartet die Rauhekopfscharte auf 2400 Metern auf uns. Der Blick von dort entschädigt für die Anstrengungen, die wir unternommen haben, um die Bergspitze zu erreichen. Aber Zeit, um uns dort aufzuhalten, bleibt uns nicht.
Auf einem sehr schmalen Grat bewegen wir uns bergab. Der Steig ist teilweise so eng, dass wir Angst haben, in die Tiefe zu stürzen. Wir sind froh, als wir auch diesen Teil der Etappe hinter uns gebracht haben.
Es folgt allerdings eine weitere Herausforderung. Der Aufstieg zum Vallugagrat auf 2750 Meter ist steil und bereitet mir Schmerzen. Der Schnee ist rutschig, und ich finde kaum Halt. Ab und an quäle ich mich auf allen vieren vorwärts – und bin nicht die Einzige. Meine Kräfte schwinden, denn mit zunehmender Höhe wird die Luft dünner, und das Atmen fällt schwerer. Als ich gemeinsam mit Harald endlich den höchsten Punkt der heutigen Etappe erreiche, nehmen wir uns kurz Zeit. Zeit, um eine wundervolle Aussicht auf eine atemberaubende Kulisse zu genießen.
Ich habe schon viele Berge bestiegen, aber was ich auf dem Vallugagrat sehe und erlebe, übertrifft alles Bisherige. Ganz oben stehen, dem Himmel ganz nah sein und den Körper spüren. Wissen, dass der kranke Körper in der Lage ist, solche Berge zu bezwingen. Ich empfinde pures Leben.
Der Abstieg ist anspruchsvoll. Ohne Seil ist man hier hilflos; glücklicherweise hat Streckenchef Wolfgang dort eines angebracht. Wir hangeln uns durch eine zerklüftete Felslandschaft hinab in die Tiefe. Es erfordert eine hohe Konzentration, und obwohl ich mich während meiner Qual bergauf mit dem Gedanken getröstet habe, dass es bald bergabgeht, kann ich jetzt nicht sagen, dass es weniger anstrengend ist.
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