Ich uebe das Sterben
Blick auf die grandiose verschneite Bergwelt ist atemberaubend.
Ich habe zwar wenig geschlafen, aber ich bin hellwach und freue mich unglaublich auf das bevorstehende Abenteuer Transalpine-Run. Meine Schmerzen sind wie weggepustet; da haben mir meine Nerven einen Streich gespielt.
Hand in Hand stehen Harald und ich kurz vor zehn Uhr am Startpunkt mitten in Oberstdorf.
Traditionell werden jeden Morgen, bevor der Moderator Sven uns auf die Strecke schickt, zwei Lieder gespielt: Erst der eigens für den Transalpine-Run komponierte Song Keep On Running und danach Highway to Hell . Ich singe laut mit und habe eine Gänsehaut am ganzen Körper.
Die Masse der etwa fünfhundert Läufer prescht mit dem Startschuss los. Harald und ich haben uns ganz hinten im Starterfeld eingeordnet, denn wir wollen es langsam angehen lassen.
In Oberstdorf laufen wir im Jubel der Zuschauer am Streckenrand. Dann führt unsere Strecke hinaus in den Wald. Dort sind wir Läufer unter uns. Langsam, aber stetig geht es bergauf. Harald und ich überholen drei, vier andere Teams und sind guten Mutes.
Den ersten Verpflegungs- und Kontrollpunkt nach rund elf Kilometern erreichen wir nach einer Stunde und vierzig Minuten. Ich fühle mich großartig und stark, als der Zeitnehmer meine Startnummer einscannt. Jetzt kann ich es langsam fassen, dass ich wirklich dabei bin. Schnell füllen Harald und ich unsere Trinkflaschen auf und essen ein paar Früchte und Riegel.
Wir liegen gut in der Zeit, und jetzt geht es so richtig los mit dem Transalpine-Run, hinauf zur Fidererscharte. Die nächsten achthundert Höhenmeter verlangen uns alles ab. Die Strecke ist zwar wunderschön und bietet eine tolle Aussicht auf das umliegende Alpenpanorama, ist aber technisch anspruchsvoll. Ich pruste wie ein Walross.
Harald und ich freuen uns schon auf die zweite Verpflegungsstelle. Bis wir diese erreichen, geht es jedoch bergauf und bergab, und der Aufstieg zum Schrofenpass liegt noch vor uns. Wir sind scheinbar ewig unterwegs. Die Flaschen sind leer, und ich bin müde.
Der Zeitnehmer läuft uns schon entgegen, als wir auf die Verpflegungsstelle zusteuern: »Ihr liegt schon zehn Sekunden über Zeitlimit.«
Panik breitet sich in meinem Kopf aus: »Die werden uns doch nicht jetzt schon aus dem Rennen nehmen?« Diese Befürchtung lähmt mich – und das zu einem Zeitpunkt, an dem es mir bereits an Kraft mangelt.
Als Harald und ich die Flaschen gefüllt und ein paar Stücke Banane in uns reingestopft haben, bewegen wir uns im Schlappschritt weiter vorwärts.
Meine Motivation ist auf dem Nullpunkt. War die erste Etappe etwa schon die letzte für mich?
Aufgeben kommt jedoch nicht infrage. 450 Höhenmeter liegen vor Harald und mir, und die Wege sind rutschig und matschig.
Als Haralds Schuh im Schlamm steckenbleibt, muss ich ihm mit meinen letzten Kräften helfen. Nachdem wir den Schuh aus dem Matsch gezogen haben, ist er voll Wasser und Schlamm. Harald schimpft, ich grummle vor mich hin.
Mutlos quälen wir uns vorwärts. Noch vier Kilometer bis zum Ziel.
Als ich einen Schluck trinken will, stelle ich fest, dass die Trinkflasche aus der Außentasche des Rucksacks gefallen ist. Schade um die schöne Flasche, die ein Andenken an den Ultratrail du Mont Blanc war. Und schlimm für mich, denn ich habe großen Durst. Ich versuche, so gut wie möglich mit der Situation klarzukommen. Denn ändern kann ich sie jetzt nicht.
Nach ein paar Bachüberquerungen und mit nassen Füßen erreichen Harald und ich endlich einen weiteren Kilometerhinweis. Ein Kilometer ist es noch. Nur bergab.
Wir sind optimistisch, denn das sollte in zehn Minuten zu schaffen sein. Für den angeblichen Kilometer benötigen wir allerdings geschlagene fünfundzwanzig Minuten.
Nach sieben Stunden und vierzig Minuten, rund fünfunddreißig Kilometern und 2545 Höhenmetern erreichen Harald und ich endlich das Ziel in Lech, Hand in Hand und mit einem Lächeln im Gesicht. Unsere Schuhe sind schlammige Klumpen, und meine Finger dick angeschwollen und taub.
Aber ich habe es geschafft! Die erste Etappe des Transalpine-Run kann mir keiner mehr nehmen.
Sobald ich im Hotel bin, gehe ich duschen und versuche, mich zu entspannen. Derweil holt Tina Pizza. Ich bin zu kaputt, um zur Pasta-Party zu gehen. Das ist schade, denn dort gibt es nicht nur das Briefing für den nächsten Tag und leckeres Essen, sondern auch die Siegerehrung und die Bilder des Tages.
Mit der Pizza in der Hand sitze ich nach der Dusche auf meinem
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