Ich uebe das Sterben
Dieser Transalpine-Run verlangt alles von mir ab.
Harald und ich erreichen die zweite Verpflegungsstation auf der Ulmer Hütte in knapp über fünf Stunden. Eine Stunde vor dem Zeitlimit. Ich bin glücklich, vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass ich nur noch rund sechs Kilometer bis Sankt Anton vor mir habe. Allerdings bedeuten diese sechs Kilometer auch tausend Höhenmeter im Abstieg.
Wir lassen uns beim Abstieg auf zumeist breiten Forststraßen und über wunderschöne Wiesen Zeit.
Als ich Sankt Anton in der Ferne erblicke, bekomme ich eine Gänsehaut. Ich werde mein Minimalziel, Sankt Anton, tatsächlich erreichen.
Hand in Hand und mit einem Lächeln im Gesicht erreichen Harald und ich nach sechs Stunden und acht Minuten, ungefähr fünfundzwanzig Kilometern und 2014 Höhenmetern das Ziel.
Ich habe alles gegeben und bin am Abend ziemlich am Ende. Wieder bin ich zu platt, um zur Pasta-Party zu gehen, und esse Kartoffeln aus dem Glas und Kuchen, den Tina mir aufs Zimmer liefert.
Die Kleidung für morgen liegt bereit. Ich werde Sankt Anton morgen zu Fuß verlassen. Das hätte ich niemals erwartet.
Nach einer kalten Nacht starten Harald und ich am frühen Morgen von Sankt Anton aus zur dritten Etappe des Runs.
Ich friere und werde bis zum ersten Verpflegungspunkt, der Darmstädter Hütte bei Kilometer zwölf, kaum warm, obwohl wir bis dahin schon 1100 Höhenmeter hinter uns bringen. Ab und zu leihe ich mir einen von Haralds Laufstöcken und beginne, mich mit einer seltsamen Einhandstocktechnik fortzubewegen. Das sieht sicher sehr lustig aus, ist für mich aber eine große Hilfe und sehr effektiv.
Wir erreichen die Hütte in etwas über zwei Stunden, fast fünfundvierzig Minuten vor dem Zeitlimit. Das macht Mut, und allmählich beginnt die Sonne, mich zu wärmen.
Der Aufstieg zum Kuchenjoch führt über ein Geröllfeld. Ich fühle mich wie bei einem Ausflug zum Mond. Während ich diese Passage genieße und konzentriert von Stein zu Stein balanciere, höre ich hinter mir nur wildes Schimpfen: »Steine, Steine, überall Steine! Ich kann keine Steine mehr sehen.« Harald, der nicht über so viel Koordinationsgeschick verfügt, tut sich auf diesem Weg der Stolperfallen schwer und macht seinem Ärger Luft.
Das letzte Stück bis zum Gipfel ist seilversichert und nichts für Menschen mit Höhenangst. Wir hangeln uns an einem Seil bergauf, den Blick stets nach oben gerichtet. Unter uns lauert der steinige Abgrund.
Wolfgang, der Streckenchef, und andere Helfer kauern in Felsvorsprüngen, um die optimale Sicherheit für die Läufer zu gewährleisten, und feuern uns an. Das tut gut, denn Zuschauer gibt es beim Transalpine-Run nicht viele.
Als Harald und ich den Abstieg zur tausend Meter tiefer gelegenen Konstanzer Hütte – dem nächsten Kontrollpunkt – antreten, kreist dicht über uns ein Hubschrauber. Von diesem aus werden wir für einen Bericht im Fernsehen und eine DVD gefilmt.
Ich weiß nicht, ob es am Hubschrauber lag oder an der Tatsache, dass wir zwischenzeitlich nicht mehr nur auf Steinen, sondern auch auf einem schmalen Pfad im Gras unterwegs waren – auf jeden Fall bin ich für einen winzigen Moment unachtsam, und da passiert es: Ich trete mit dem linken Fuß neben den Pfad, verliere den Halt und purzle kopfüber den Hang hinunter. Nach drei Überschlägen bleibe ich etwa fünf Meter weiter unten liegen.
Besorgte Schreie von oben.
»No worries, I am okay«, ist meine Antwort.
Als ich dann den Hang wieder hochkrabbele, sehe ich Blut an meinen Händen. Der Ellbogen schmerzt und ist schon dick angeschwollen. Die Knie tun weh. Aber ich laufe weiter, wenn auch auf wackeligen Beinen, denn der Schock sitzt noch in den Knochen.
Langsam und vorsichtig bewegen Harald und ich uns weiter abwärts. Durch das verminderte Tempo gerate ich in Panik und befürchte, den Kontrollpunkt nicht im Zeitlimit zu erreichen und zu riskieren, aus dem Rennen genommen zu werden.
Nach vier Stunden und fünfzehn Minuten kommen wir am Verpflegungspunkt auf 1770 Metern an. Fast achtzehn Kilometer liegen bereits hinter uns. Fünfzehn Minuten Zeitpolster sind nicht viel, aber genug, um im Rennen zu bleiben, kurz die Getränkeflaschen aufzufüllen und ein paar Bissen zu essen.
Jetzt sind es noch fünfzehn Kilometer und knapp tausend Höhenmeter bis ins Ziel. Der Aufstieg zum Schafbichl-Joch liegt vor uns. Der Weg zieht sich zunächst sanft durch grüne saftige Almwiesen. Die Idylle hier oben ist traumhaft.
Doch dann folgt das
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