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Ich Und Kaminski

Ich Und Kaminski

Titel: Ich Und Kaminski Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Kehlmann
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Spaziergänger, die Straßenansichten. Auf den ersten Blick fabelhaft. Aber thematisch nicht gerade subtil. Und seien wir ehrlich, wenn man nicht von seiner Erblindung wüßte...« Er hob die Schultern. »Sie kennen die Bilder im Original?«
    Ich zögerte. Ich hatte darüber nachgedacht, nach New York zu fliegen, aber das war ziemlich teuer, und außerdem - wozu gab es Bildbände? »Natürlich!«
    »Dann wird Ihnen der ziemlich unsichere Strich aufgefallen sein. Er dürfte starke Lupen verwendet haben. Kein Vergleich zur technischen Perfektion von früher. Und danach? Ach Gott, darüber ist das Urteil ja schon gesprochen. Kalenderbilder! Haben Sie den schrecklichen Hund am Meer gesehen, diese Goya-Imitation?«
    »Also zunächst zuviel Technik und zuwenig Gefühl, dann umgekehrt.«
    »Könnte man sagen.« Er zog die Hände hinter dem Nacken hervor, der Stuhl kippte in die Waagrechte. »Vor zwei Jahren habe ich ihn noch einmal im Seminar behandelt. Die jungen Leute waren ratlos. Er hatte ihnen nichts mehr zu sagen.«
    »Haben Sie ihn je getroffen?«
    »Nein, wozu? Als meine Anmerkungen zu Kaminski herauskamen, habe ich ihm das Buch geschickt. Er hat nie geantwortet. Hielt er nicht für nötig! Wie gesagt, er ist ein guter Maler, und die sind zeitgebunden. Nur große sind das nicht.«
    »Sie hätten hinfahren müssen«, sagte ich.
    »Bitte?«
    »Es bringt nichts, zu schreiben und auf Antwort zu warten. Man muß zu ihnen fahren. Man muß sie überfallen. Als ich mein Porträt über Wernicke geschrieben habe... Kennen Sie Wernicke?«
    Er sah mich mit gerunzelter Stirn an.
    »Es war ja gerade erst passiert, und seine Familie wollte nicht mit mir reden. Aber ich bin nicht weggegangen. Ich stand vor der Haustür und habe ihnen gesagt, daß ich auf jeden Fall über seinen Selbstmord schreiben würde und daß sie nur die Wahl hatten, mit mir zu reden oder nicht. ›Wenn Sie es nicht wollen‹, habe ich gesagt, ›bedeutet das auch, daß Ihr Standpunkt nicht vorkommt. Wenn Sie aber bereit wären...‹«
    »Entschuldigung.« Komenew beugte sich vor und sah mich scharf an. »Wovon reden Sie eigentlich?«
    *
    »Lange dauerte es nicht. Nach einem Jahr war das mit Therese vorbei.«
    Der Kellner brachte das Steak mit Bratkartoffeln, Silva griff gierig nach dem Besteck und begann zu essen, sein Hals zitterte beim Schlucken. Ich bestellte noch eine Coca-Cola.
    »Sie war wirklich etwas Besonderes. Sie hat in ihm nie gesehen, was er war, sondern was er werden konnte. Und dann hat sie ihn dazu gemacht. Ich erinnere mich noch, wie sie ein Bild von ihm angesehen und ganz leise gesagt hat: ›Müssen es immer Adler sein?‹ Sie hätten hören müssen, wie sie ›Adler‹ ausgesprochen hat. Das war das Ende seiner symbolistischen Phase. Sie war wunderbar! Die Ehe mit Adrienne war nur ein mißlungenes Spiegelbild davon, sie sah Therese ein wenig ähnlich. Muß ich mehr sagen? Wenn Sie mich fragen, ist er nie über sie hinweggekommen. Wenn jedes Leben seine entscheidende Katastrophe hat...« Er hob die Schultern. »... dann war das seine.«
    »Aber seine Tochter ist von Adrienne.«
    »Als sie dreizehn war, starb ihre Mutter.« Er blickte ins Leere, als ob die Erinnerung ihn schmerzte. »Dann kam sie zu ihm in dieses Haus am Ende der Welt, und seither kümmert sie sich um alles.« Er schob sich ein zu großes Stück Fleisch in den Mund, es dauerte eine Weile, bis er wieder sprechen konnte; ich bemühte mich, nicht hinzusehen. »Manuel hätte immer die Menschen gefunden, die er brauchte. Er hielt es für etwas, das die Welt ihm schuldig war.«
    »Warum hat Therese ihn verlassen?«
    Er antwortete nicht. Vielleicht war er schwerhörig. Ich schob das Diktaphon näher zu ihm. »Warum...«
    »Was weiß ich! Herr Zöllner, es gibt so viele Erklärungen, so viele Versionen von allem, am Ende ist die Wahrheit das banalste. Niemand weiß, was geschehen ist, und keiner hat eine Ahnung, was ein anderer über ihn denkt! Wir sollten aufhören. Ich bin es nicht mehr gewöhnt, daß man mir zuhört.«
    Ich sah ihn überrascht an. Seine Nase zitterte, er hatte das Besteck weggelegt und sah mich aus hervortretenden Augen an. Was hatte ihn so aufgebracht? »Da wären noch ein paar Fragen«, sagte ich vorsichtig.
    »Merken Sie das nicht? Wir reden über ihn, als wäre er schon tot.«
    *
    »Einmal wurde ein neues Stück aufgeführt.« Er setzte sich gerade, rieb sich die Glatze, strich über sein Doppelkinn und legte die Stirn in Falten. Fang noch einmal von deinen

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